Der Historiker
Jahren höchstens heller geworden schien, nicht grau. Die Eltern meines Vaters, die in Boston gelebt hatten, waren gestorben, als ich noch ein kleines Mädchen war, und ich dachte, dass mir so ein Großvater gefallen hätte. »Ich heiße Johan Binnerts«, fügte er noch hinzu. »Wende dich ruhig an mich, wenn du Hilfe brauchst.«
Ich sagte, das sei genau das, wonach ich gesucht hätte, danke , und er tätschelte mir die Schulter, bevor er leise davonging. Ich las in dem nun leeren Lesesaal noch einmal den ersten Teil, den ich bereits in mein Notizbuch übertragen hatte:
Im Jahr 1456 unseres Herrn tat Dracula viele schreckliche und merkwürdige Dinge. Als er zum Herrscher über die Walachei ernannt wurde, ließ er alle jungen Männer verbrennen, die in sein Land kamen, um seine Sprache zu lernen, vierhundert von ihnen. Eine große Familie ließ er pfählen und viele seiner Untertanen nackt bis zum Nabel eingraben und dann auf sie schießen. Einige ließ er am Spieß braten und zog ihnen die Haut ab.
Unten auf der ersten Seite gab es eine Fußnote. Sie war so klein geschrieben, dass ich sie beinahe übersah. Als ich sie näher betrachtete, stellte ich fest, dass es sich um eine Erläuterung des Wortes »pfählen« handelte. Vlad Tepes, so wurde behauptet, habe diese Form der Folter von den Osmanen gelernt. Dabei wurde der Körper mit einem spitzen hölzernen Pfahl durchbohrt, gewöhnlich durch den Anus oder die Genitalien, bis der Pfahl durch den Mund oder manchmal auch den Kopf wieder austrat.
Ich versuchte, die Worte nicht anzusehen. Dann versuchte ich einige Minuten lang, sie zu vergessen, und hielt das Buch geschlossen.
Was mich an jenem Tag jedoch am meisten verfolgte, als ich schließlich mein Notizbuch zuschlug und den Mantel anzog, um nach Hause zu gehen, war nicht meine Vorstellung von Dracula oder die Beschreibung des Pfählens, sondern die Tatsache, dass all diese Dinge – offenbar – tatsächlich geschehen waren. Wenn ich zu aufmerksam lauschte, so dachte ich, würde ich die Schreie der Jungen und der »großen Familie« hören können, die zusammen in den Tod gegangen waren. Sosehr er sich auch um meine historische Bildung bemühte, eines hatte mein Vater versäumt, mir klar zu machen: Auch die schrecklichsten Momente der Geschichte waren wirklich passiert. Heute, Jahrzehnte später, verstehe ich, dass er mir das nie hätte erklären können. Nur die Geschichte selbst kann den Menschen von solch einer Wahrheit überzeugen. Und wer die Wahrheit einmal gesehen hat, wirklich gesehen hat, der kann nicht mehr wegsehen.
Als ich an jenem Abend nach Hause kam, verspürte ich eine Art teuflische Kraft und stellte meinen Vater zur Rede. Er las in der Bibliothek, während Mrs Clay in der Küche mit dem Geschirr herumklapperte. Ich ging zu ihm, schloss die Tür hinter mir und baute mich vor ihm auf. Er hielt einen seiner geliebten Henry-James-Bände in den Händen, was bei ihm ein sicheres Zeichen dafür war, dass er sich unter Druck fühlte. Ich stand da und sagte nichts, bis er aufsah. »Hallo, Liebes«, sagte er. »Algebra? Hausaufgaben?« Seine Augen wirkten bereits ängstlich.
»Ich möchte, dass du die Geschichte fertig erzählst«, sagte ich.
Er schwieg und klopfte mit den Fingern auf die Lehne seines Sessels.
»Warum willst du mir nicht mehr erzählen?« Es war das erste Mal, dass ich mir wie eine Bedrohung für ihn vorkam. Er sah auf das Buch, das er gerade zugeschlagen hatte. Ich spürte, dass ich auf eine Weise grausam zu ihm war, die ich selbst nicht verstand, aber nun, da ich mein blutiges Werk einmal begonnen hatte, sollte ich es auch zu Ende bringen. »Du willst mir Dinge vorenthalten.«
Endlich sah er zu mir auf. Sein Gesicht war unergründlich traurig, und im Licht der Lampe sah man tiefe Furchen. »Nein, das will ich nicht.«
»Ich weiß mehr, als du denkst«, sagte ich, obwohl ich begriff, dass das ein kindischer Vorstoß war. Ich würde ihm nicht sagen wollen, was ich wusste, wenn er danach fragte.
Er faltete die Hände unter dem Kinn. »Ich weiß, dass du das tust«, sagte er schließlich. »Und weil du überhaupt etwas weißt, werde ich dir alles erzählen müssen.«
Überrascht starrte ich ihn an. »Dann erzähl doch«, sagte ich mit fester Stimme.
Wieder senkte er den Blick. »Das werde ich, und zwar sobald ich kann. Aber nicht alles auf einmal.« Mit einem Mal brach es aus ihm heraus: »Ich ertrage das nicht alles auf einmal. Hab Geduld mit mir!«
Der Blick, den er mir
Weitere Kostenlose Bücher