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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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dabei zuwarf, war wie ein Flehen, nicht wie eine Anklage. Ich ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf den gebeugten Kopf.
     
     
    Der März in der Toskana würde kühl und windig sein, aber mein Vater meinte, nach viertägigen Besprechungen in Mailand – das war sein Beruf für mich immer gewesen: Besprechungen – sei eine kurze Reise aufs Land gerade das Richtige. Diesmal musste ich ihn nicht bitten, mich mitzunehmen. »Florenz ist wunderbar, besonders außerhalb der Saison«, sagte er an jenem Morgen, als wir von Mailand aus südlich fuhren. »Ich möchte, dass du es bald einmal siehst. Aber erst musst du etwas mehr über seine Geschichte und Gemälde lernen, dann erst wird es dir wirklich etwas geben. Die toskanische Landschaft ist wundervoll. Sie entspannt deine Augen und regt sie gleichzeitig an – du wirst sehen.«
    Ich nickte und machte es mir auf dem Beifahrersitz unseres gemieteten Fiat bequem. Die Freiheitsliebe meines Vaters war ansteckend, und mir gefiel es, wie er den Hemdkragen lockerte, wenn wir uns auf die Reise an einen neuen Ort machten. Er brachte den Fiat auf der breiten, gut ausgebauten Autobahn zu einem gleichmäßigen Brummen. »Ich verspreche Massimo und Giulia seit Jahren, dass wir sie besuchen werden.« Er lehnte sich zurück und streckte die Beine. »Sie sind etwas seltsam – exzentrisch würde ich sagen, aber sehr liebe Leute. Bist du dabei?«
    »Das habe ich doch gesagt.« Ich zog es vor, mit meinem Vater allein zu bleiben, statt Fremde zu besuchen, die mich jedes Mal meine angeborene Schüchternheit fühlen ließen, aber er schien sich darauf zu freuen, seine alten Freunde wiederzusehen. Das Vibrieren des Fiat wiegte mich in den Schlaf, ich war müde von der Zugfahrt. Ein Bann war an diesem Morgen über mich verhängt worden, in Form eines schon alarmierend überfälligen Rinnsals Blut, das meinen Arzt in Unruhe versetzt und dessentwegen Mrs Clay meinen Koffer ungeschickt mit Baumwollbinden voll gestopft hatte. Mein erster Blick auf diese »Neuerung« in der Zugtoilette hatte mir Überraschungstränen in die Augen getrieben, als hätte mich jemand verwundet; der Fleck in meinen soliden Baumwollunterhosen sah aus wie der Fingerabdruck eines Mörders. Meinem Vater sagte ich nichts davon. Flusstäler und entfernte Berge voller Dörfer wurden zu einem diffusen Panorama und verschwammen schließlich. Noch beim Mittagessen war ich schläfrig, für das wir in einer Stadt hielten, die nur aus Cafés und dunklen Bars zu bestehen schien, mit Straßenkatzen, die sich in den Eingängen zusammenrollten und wieder entrollten.
    Aber als wir dann mit dem Dämmerlicht zu einem von zwanzig hoch gelegenen Dörfern hinauffuhren, die sich um uns herum erhoben wie Teile eines Freskos, da war ich hellwach. Der stürmische, wolkenverwischte Abend ließ am Horizont Fetzen des Sonnenuntergangs aufscheinen – Richtung Mittelmeer, sagte mein Vater, Richtung Gibraltar und anderer Orte, die wir einst besuchen würden. Über uns lag ein Dorf, das auf Felsenstelzen errichtet schien, dessen Straßen fast vertikal verliefen und dessen Gässchen stufenförmig, wie schmale Steintreppen, angelegt waren. Mein Vater steuerte den kleinen Wagen einmal hierhin, einmal dorthin, dann vorbei an einer trattoria, aus der Licht aufs feuchte Pflaster fiel. Schließlich fuhr er den Berg vorsichtig auf der anderen Seite wieder hinunter. »Hier irgendwo muss es sein, wenn ich mich recht erinnere.« Zwischen wie Wächter dastehenden Zypressen bog er in einen ausgewaschenen Pfad. »Villa Montefollinoco in Monteperduto – so heißt der Ort. Erinnerst du dich?«
    Ich erinnerte mich. Beim Frühstück hatten wir die Karte studiert, und mein Vater war mit dem Finger neben seiner Kaffeetasse entlanggefahren. »Da liegt Siena. Darauf halten wir erst einmal zu. Das ist in der Toskana. Dann geht es hier nach Umbrien. Da liegt Montepulciano, ein berühmter alter Ort, und dort auf dem nächsten Berg ist unser Ziel, Monteperduto.« Die Namen vermischten sich in meinem Kopf, aber monte hieß Berg, und wir fuhren durch Berge, die zu einem großen Puppenhaus gepasst hätten, kleine, bemalte Berge wie die Ausläufer der Alpen, durch die ich nun schon mehrmals gereist war.
    In der sich senkenden Dunkelheit sah das Landhaus klein aus, ein geducktes, verschachteltes Bauernhaus aus Feldsteinen mit Zypressen und Olivenbäumen um die rötlichen Dächer und ein paar Steinpfosten, die die Zufahrt markierten. Licht strahlte aus den Fenstern des

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