Nimm Platz und stirb
I
Als ich den Jühl zum erstenmal sah, lag
ich am Boden der Kantine der Sirius-Film, Gesellschaft mit beschränkter
Haftung. Ich stützte mich mit dem rechten Ellenbogen auf einen Pappteller voll
Senf. Über meine linke Schulter hingen zwei Paar Würstchen. Der Jühl lag mir in
ähnlicher Haltung gegenüber. Das Bier war über seine Lederweste und sein
Sporthemd gelaufen, und nach seinen Grimassen zu urteilen, schien es gerade an
seinem Bauch hinunterzurinnen. Mit der rechten Hand hielt er ein Brötchen steil
in die Luft. Die Freiheitsstatue hätte ihre Fackel nicht stolzer halten können.
Zwischen uns lag meine Aktentasche, bedeutend neuer als die Einfälle meines
letzten Drehbuches, und um uns herum glitzerten die Trümmer eines Bierglases,
aus dem der Jühl hatte trinken wollen.
Das alles mußte passieren, weil dieser
Windhund von einem Regisseur wieder so unpünktlich gewesen war wie immer. Ich
hatte im Studio nach ihm gefragt und aus Tinas rubinrotem Mund die Auskunft
bekommen, daß es wohl noch eine Weile dauern würde. Ich war wutentbrannt in die
Kantine gegangen. Als ich die Schwingtür öffnete, schwebten hinter mir ein paar
Nachwuchskräfte vorbei, mit denen Adam sämtliches Obst im Paradies geteilt
hätte. Trotz meiner vielen Reinfälle und meines gesetzten Alters brachte ich
die Augen nicht von ihnen los und schoß abgewandten Blicks in das Innere der
Kantine. Der Zusammenstoß mit dem Jühl war wie ein Schwinger von Floyd
Patterson.
Der Jühl gefiel mir gut. Er hatte
dunkles Haar mit zwei verschämten Wellen. Keinen Igelschnitt und keine Pomade.
Seine Ohren standen leicht ab, als käme der Wind von hinten. Da unsere Nasen
nur einige Zentimeter voneinander entfernt waren, konnte ich die Augen genau
betrachten. Sie waren blaßblau und hatten feine bräunliche Pünktchen in der
Iris. Die Figur des Jühl schien mir von der Art, bei der Mädchen anfangen, in
der Nähe Burgen zu bauen und Ball zu spielen, wenn so ein Mann am Strand liegt.
Bei mir taten sie das längst nicht mehr.
»Das waren verdammt frische Kinder,
was?« sagte der Jühl, legte das Brötchen auf den Boden und nahm die Würstchen
von meiner Schulter. »Hab’ sie durch die Tür gesehen, als Sie hereinkamen.
Wissen Sie, wo sie mitmachen?«
Seine Stimme klang friedlich.
»Wie alt sind Sie?« fragte ich.
»Zweiundzwanzig«, antwortete er.
»In dem Alter hab’ ich mich mehr
aufgeregt«, sagte ich. »Tut mir leid. Ich war ein Büffel. Leider weiß ich auch
nicht, wo die Kinder mitspielen.«
Ich wollte aufstehen, weil die Leute
anfingen, einen Kreis um uns zu bilden. Ich kam nicht dazu. Der Jühl war
blitzschnell auf den Füßen. Ich fühlte mich unter den Achseln hochgezogen und
stand so schnell senkrecht, daß der Pappteller an meinem Ellenbogen noch einige
Sekunden klebenblieb, bevor er abfiel.
Der Jühl lächelte, und die Pünktchen in
seinen Augen schienen zu tanzen. Er faßte das Hemd mit zwei Fingern, um es von
der Haut wegzuziehen.
»Klebt?« fragte ich. »Dunkles?«
»Hell.« Er bückte sich und hob meine
Aktentasche auf. Einen Augenblick sah ich seine abstehenden Ohren von oben. Ich
klemmte die Mappe mit dem Drehbuch unter den Arm, als enthielte sie die
Wochenlöhnung für das ganze Atelier. Dann fragte ich ihn, ob wir das nächste
Bier an die richtige Stelle schütten wollten. Er war einverstanden.
Nach dem dritten Bier kannte ich ihn
genauer. Er hieß Thomas Jüstel, Spitzname Jühl. Er hatte das Abitur und war auf
der Schauspielschule von Fanny Trebonian. Ich kannte Fanny. Der Jühl hatte bei
ihr schon so viele jugendliche Helden gemimt, daß er nicht mehr wußte, was ein
Feigling war.
»Als Brutus bin ich gut«, sagte der
Jühl und nippte an seinem Glas, »ich kann mich schon prima ins Schwert
stürzen.«
»Die gute Fanny«, antwortete ich, »sie
geht sogar in Wahlversammlungen, nur um den Beifall zu hören. Die Bühne fehlt
ihr sehr. Und was tun Sie hier?«
»Mord verjährt nie«, sagte er,
»Reinold. Drei Drehtage, wenn ich Glück habe.«
Ich sah ihn eine Weile stumm an. Dann
griff ich nach meiner Mappe, zog das Drehbuch heraus und legte es vor ihn hin.
Die Schrift des Titels war beinahe künstlerisch wertvoll:
MORD VERJÄHRT NIE
Drehbuch von Hans Trubo
Regie: Stefan Reinold
Produktion: Sirius-Film
Verleih: Serkoff-Filmverleih
Er starrte auf das Buch, als wäre es
die erste Gutenberg-Bibel. »Wir sind beim selben Film«, sagte ich, »Anny, noch
zwei Helle!«
Er fragte: »Wie viele Drehtage
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