Der Historiker
Erdgeschosses, und ich fühlte mich plötzlich hungrig, müde und missgelaunt wegen etwas, das ich vor unseren Gastgebern zu verbergen haben würde. Mein Vater holte unsere Taschen aus dem Kofferraum, und ich folgte ihm den Weg hinauf. »Selbst die Glocke ist noch da«, sagte er befriedigt, zog an einem kurzen Strick, der neben der Eingangstür hing, und strich sich in der Düsternis das Haar zurück.
Der Mann, der die Tür öffnete, schoss wie ein Tornado aus dem Haus, umarmte meinen Vater, schlug ihm auf den Rücken, küsste ihn hörbar auf beide Wangen und beugte sich ein bisschen zu weit vor, um meine Hand zu schütteln. Die seine war riesig und warm, und er legte sie mir auf die Schulter und führte mich ins Haus. In der Diele, die voller alter Möbel stand und eine niedrige Balkendecke hatte, bellte er los wie ein Tier: »Giulia! Giulia! Schnell! Die große Ankunft! Komm her!« Sein Englisch klang sicher, kräftig und laut.
Die lächelnde große Frau, die daraufhin erschien, gefiel mir auf den ersten Blick. Ihr Haar war grau, leuchtete jedoch silbern und war mit Nadeln festgesteckt, damit es ihr nicht in das schmale Gesicht fiel. Ihr erstes Lächeln galt mir, und sie beugte sich nicht zu mir herab. Ihre Hand war warm wie die ihres Mannes, auch sie küsste meinen Vater auf beide Wangen und schüttelte den Kopf unter einem sanften Strom Italienisch. »Und du«, sagte sie zu mir auf Englisch, »du brauchst ein eigenes Zimmer, ein schönes, okay?«
»Okay«, stimmte ich zu. Das hörte sich gut an, und ich hoffte nur, dass es in sicherer Nähe zu dem meines Vaters liegen würde, mit Blick auf das Tal, aus dem wir uns so heraufgekämpft hatten.
Nach dem Abendessen im gefliesten Esszimmer lehnten sich die Erwachsenen zurück und seufzten. »Giulia«, sagte mein Vater, »du wirst mit jedem Jahr eine bessere Köchin. Du bist eine der großen Köchinnen Italiens.«
»Unsinn, Paolo.« Ihr Englisch klang nach Oxford und Cambridge. »Du redest immer nur Unsinn.«
»Vielleicht ist es der Chianti. Lass mich einmal die Flasche sehen.«
»Lasst mich zuerst nachschenken«, warf Massimo ein. »Und was lernst du, hübsche Tochter?«
»Wir haben alle Fächer bei uns auf der Schule«, sagte ich sittsam.
»Ich glaube, sie mag Geschichte«, sagte mein Vater. »Und Sehenswürdigkeiten. «
»Geschichte?« Massimo füllte Giulias Glas erneut, ihr zweites, und dann seines, mit Wein so rot wie Granat oder dunkel wie Blut. »Wie du und ich, Paolo. Wir nennen deinen Vater so«, erklärte er mir als Zwischenbemerkung, »weil ich diese langweiligen englischen Namen nicht ertrage, die ihr alle habt. Tut mir Leid, ich schaff s einfach nicht. Paolo, mein Freund, du weißt, ich hätte tot umfallen können, als ich hörte, dass du dein Leben an der Universität aufgeben wolltest, um dich in der ganzen Welt mit Leuten zu unterhalten. Da redet er also lieber, als er liest, sagte ich mir. Der Welt geht ein großer Gelehrter verloren, und das ist dein Vater.« Er schenkte mir ein halbes Glas Wein ein, ohne meinen Vater zu fragen, und füllte es mit Wasser aus dem Krug auf, der auf dem Tisch stand. Dafür mochte ich ihn.
»Jetzt redest du Unsinn«, sagte mein Vater zufrieden. »Ich reise gerne. Das ist es, was ich wirklich mag.«
»Ah.« Massimo schüttelte den Kopf. »Und dabei, Signor Professor, hast du dich einmal für den Größten von allen gehalten. Nicht, dass deine Stiftung kein wunderbarer Erfolg wäre, ich weiß.«
»Wie brauchen Frieden und diplomatische Aufklärung mehr als Forschung zu abseitigen Fragen, die niemand kümmern«, konterte mein Vater lächelnd. Giulia zündete eine Laterne auf der Anrichte an und schaltete das elektrische Licht aus. Sie stellte die Laterne auf den Tisch und schnitt eine torta an, die ich vorher nicht zu sehr anzustarren versucht hatte. Unter dem Messer leuchtete ihre Glasur wie Obsidian.
»In der Geschichtswissenschaft gibt es keine abseitigen Fragen.« Massimo zwinkerte mir zu. »Und im Übrigen hat selbst der große Rossi gesagt, du seist sein bester Student gewesen. Während der Rest von uns ihm kaum zu gefallen vermochte.«
»Rossi!«
Der Name war aus meinem Mund, bevor ich mich bremsen konnte. Mein Vater sah unbehaglich über seinen Kuchen zu mir herüber.
»Du kennst also die Legenden über die akademische Karriere deines Vaters, junge Dame?« Massimo stopfte sich ein großes Stück Schokoladenkuchen in den Mund.
Mein Vater warf mir einen weiteren Blick zu. »Ich habe ihr ein paar
Weitere Kostenlose Bücher