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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Herzen des Chaos glaubte ich eine Gestalt zu sehen, die sich von allen unterschied, einen schwarz gekleideten Reiter mit wehendem Umhang im Farbenmeer, mit verbissenem Gesicht, das Schwert führend, osmanische Köpfe erntend, die in ihren spitzen Helmen über den Boden rollten.
    Turguts Stimme verklang, und ich fand mich neben ihm stehend, den Blick auf den Sterbenden gerichtet. Helen wunderbar wirklich neben mir. Ich wollte sie etwas fragen und bemerkte, dass sie denselben Schrecken in Turguts Wehklagen vernommen hatte. Ohne es zu wollen, musste ich daran denken, dass das Blut des Pfählers in ihren Adern floss. Eine Sekunde lang wandte sie sich mir zu, das Gesicht erschrocken, aber gefasst, und die Güte in ihren Augen zeigte mir genau zum richtigen Zeitpunkt, dass sie auch Rossis Erbe in sich trug: Milde, patrizisch, toskanisch, angelsächsisch. In diesem Augenblick, denke ich – nicht später zu Hause in der plumpen braunen Kirche meiner Eltern, nicht vor irgendeinem Priester –, heiratete ich sie, heiratete ich sie in meinem Herzen. Verband mich auf ewig mit ihr.
    Turgut, der verstummt war, hatte eine Gebetsschnur auf die Brust seines Freundes gelegt, was den Körper leicht erzittern ließ, und wählte aus den Falten des Satins in der Schatulle einen Gegenstand aus – länger als meine Hand und aus glänzendem Silber. ›Ich habe so etwas nie zuvor in meinem Leben getan, Allah errette mich‹, sagte er flüsternd. Er öffnete Mr Erozans Hemd, und ich sah die alternde Haut, das lockige Brusthaar, das so grau wie Asche war und sich unregelmäßig hob und senkte. Selim hatte sich erhoben, durchsuchte mit schweigsamer Effizienz das Zimmer und brachte Turgut einen Ziegel, der offenbar als Türstopper gedient hatte. Turgut wog ihn einen Moment lang in der Hand. Er stellte den Pflock mit dem spitzen Ende auf die linke Seite der Brust des Mannes und verfiel in leisen Gesang, von dem ich ein paar Worte verstand, an die ich mich von irgendwoher – aus einem Buch, Film oder einer Unterhaltung? – erinnerte: ›Allahu akbar, Allahu akbar – Allah ist groß…‹ Ich wusste, ich konnte Helen ebenso wenig dazu zwingen, den Raum zu verlassen wie mich selbst, aber ich zog sie einen Schritt zurück, als der Ziegel nach unten sauste. Turguts Hand war groß und sicher. Selim hielt den Pflock für ihn, der mit splitterndem, saugendem Dröhnen in den Körper drang. Blut quoll um die Wunde auf und verschmierte die blasse Haut. Mr Erozans Gesicht verkrampfte sich eine Sekunde lang, und wie ein Hund bleckte er die Lippen. Helen starrte auf ihn hinunter, und ich traute mich nicht, den Blick abzuwenden. Ich wollte nicht, dass sie etwas sah, was ich nicht mit ihr teilen konnte. Der Körper des Bibliothekars erbebte, der Pflock verschwand bis zum Anschlag in ihm, und Turgut lehnte sich etwas zurück, als warte er. Seine Lippen zitterten und sein Gesicht war schweißüberströmt.
    Nach einer Weile entspannte sich Mr Erozans Körper und dann auch sein Gesichtsausdruck. Seine Lippen schlossen sich langsam, und ein Seufzer entrang sich ihm. Die Füße in den erbärmlich durchlöcherten Socken zuckten und blieben endlich still liegen. Ich hielt Helen fest umfasst, spürte ihr Erschauern, aber sie blieb ruhig. Turgut ergriff die schlaffe Hand seines Freundes und küsste sie. Ich sah Tränen über sein gerötetes Gesicht laufen, in seinen Schnurrbart tropfen, und schließlich legte er seine Hand auf Mr Erozans Augen. Selim berührte die Stirn des Toten, erhob sich dann und drückte Turguts sich hebende Schulter.
    Bald schon fasste Turgut sich wieder, stand auf und putzte sich die Nase. ›Er war ein sehr guter Mensch‹, sagte er mit brüchiger Stimme. ›Ein großzügiger, gütiger Mensch. Jetzt ruht er in Mohammeds Frieden, statt sich zu den Legionen der Hölle zu gesellen.‹ Er wandte sich ab, um sich die Augen zu trocknen. ›Werte Kollegen, wir müssen diesen Körper von hier wegschaffen. In einem der Krankenhäuser gibt es einen Arzt, der… uns helfen wird. Selim wird bei verschlossener Tür hier bleiben, während ich telefonieren gehe. Der Arzt wird mit einem Krankenwagen kommen und die nötigen Bescheinigungen ausstellen.‹ Turgut nahm etliche Knoblauchzehen aus seiner Tasche und steckte sie dem Toten vorsichtig in den Mund. Selim zog den Pflock aus seinem Körper, wusch ihn im Waschbecken in der Ecke des Zimmers und legte ihn vorsichtig zurück in seine schöne Schatulle. Turgut wischte alle Blutspuren auf, bedeckte die Brust

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