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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Mann erhob sich von seiner Seite, um uns zu begrüßen. Der Mann war fast hysterisch vor Angst und Kummer, unablässig verdrehte er die Hände und wiederholte Turgut gegenüber die immer gleichen Worte. Turgut schob ihn zur Seite, und er und Selim knieten sich neben Mr Erozan. Das Gesicht des bedauernswerten Opfers hatte die Farbe von Asche, seine Augen waren geschlossen und der Atem ein rasselndes Keuchen. Auf dem Hals war eine hässliche Wunde, größer als noch beim letzten Mal und umso schrecklicher, da sie seltsam sauber war, wenn auch schartig und von Blut gesäumt. Eine solch tiefe Wunde hätte eigentlich heftig bluten müssen. Ich spürte, wie sich mir der Magen umzudrehen drohte. Einen Arm um Helen gelegt, stand ich da und konnte den Blick nicht abwenden.
    Turgut untersuchte die Wunde, ohne sie zu berühren. ›Vor ein paar Minuten ist dieser verdammenswerte Kerl gegangen, um einen fremden Arzt zu rufen, ohne mich zu fragen. Aber der Arzt war nicht da. Das zumindest ist ein Glück, denn wir wollen hier jetzt keinen Arzt. Gerade zum Sonnenuntergang hat er Mr Erozan allein gelassen.‹ Turgut sagte etwas zu Mr Aksoy, der sich erhob und dem unglücklichen Wächter mit einer Kraft, mit der ich nicht gerechnet hätte, einen Schlag versetzte und ihn aus dem Zimmer schickte. Der Mann wich zurück, und dann hörten wir ihn panisch die Treppe hinuntereilen. Selim schloss hinter ihm ab und sah aus dem Fenster auf die Straße, als wolle er sich versichern, dass der arme Bursche nicht wieder zurückkehrte. Anschließend kniete er sich neben Turgut, und die beiden besprachen sich mit leiser Stimme.
    Nach einer Weile griff Turgut in die Tasche, die er mitgebracht hatte. Ich sah, wie er daraus etwas hervorzog, das mir vertraut vorkam: Es war ein Vampirjagd-Set – ähnlich dem, das er mir vor etwas mehr als einer Woche in seinem Arbeitszimmer gegeben hatte, nur dass sich dieses in einer eleganteren Schatulle befand, geschmückt mit arabischen Schriftzeichen und etwas, das aussah wie eine perlmutterne Einlegearbeit. Er öffnete die Schatulle und betrachtete die Instrumente darin. Dann wandte er sich uns zu. ›Meine Professoren‹, sagte er ruhig. ›Mein Freund hier ist mindestens dreimal von einem Vampir gebissen worden, und er liegt im Sterben. Wenn er in diesem Zustand auf natürliche Weise stirbt, wird er bald ein Untoter sein.‹ Er wischte sich mit seiner großen Hand über die Stirn. ›Das ist ein schrecklicher Moment jetzt, und ich muss Sie bitten, den Raum zu verlassen. Madam, Sie sollten nicht zuschauen.‹
    ›Bitte, lassen Sie uns tun, was immer Ihnen hilft‹, sagte ich zögernd, aber Helen trat vor.
    ›Lassen Sie mich bleiben‹, sagte sie mit leiser Stimme zu Turgut. ›Ich möchte wissen, wie man es macht.‹ Einen Moment lang fragte ich mich, warum sie das wollte, bis mir der Gedanke kam – ein surrealer Gedanke –, dass sie schließlich Anthropologin war. Er musterte sie, schien endlich wortlos zuzustimmen und beugte sich wieder über seinen Freund. Ich hoffte immer noch, dass es nicht das war, was ich befürchtete, aber Turgut murmelte etwas in das Ohr seines Freundes, nahm Mr Erozans Hand und streichelte sie.
    Dann, und das war vielleicht das Schlimmste von all den schrecklichen Dingen, die noch kommen sollten, drückte Turgut die Hand des Freundes an sein Herz und brach in Wehklagen aus. Die Worte, die er äußerte, kamen aus den Tiefen einer nicht nur zu alten Geschichte, sondern für mich auch zu fremden, um ihre Schmerzenslaute unterscheiden zu können, ein Wehlaut, der dem Ruf des Muezzins glich, den wir von den Minaretten der Stadt nun schon so oft gehört hatten, nur dass Turguts Ruf nicht zum Gebet rief, sondern wie eine Vorladung zur Hölle klang – eine Abfolge schreckgetriebener Noten, die aus der Erinnerung an tausend osmanische Lager und eine Million türkischer Soldaten aufzusteigen schien. Ich sah die flatternden Banner, das Blut auf den Beinen ihrer Pferde, den Speer und den Halbmond, das Glitzern von Krummschwertern und Kettenhemden im Sonnenlicht, die schönen, verunstalteten jungen Köpfe, Gesichter, Körper, hörte die Schreie der Männer, die in die Hände Allahs übergingen, das Weinen der Mütter und Väter in weiter Ferne, roch den Gestank brennender Häuser und frischen Blutes, den Schwefel des Artilleriefeuers, lohende Zelte und Brücken und Pferdekadaver.
    Und mitten in all diesem Aufruhr hörte ich einen Schrei, den ich verstand: ›Kaziklu Bey! Der Pfähler!‹ Im

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