Der Historiker
des Mannes mit einem Geschirrtuch und knöpfte ihm das Hemd wieder zu. Dann nahm er ein Laken vom Bett und ließ mich ihm helfen, es über den Leichnam zu breiten, sein stilles Gesicht zu bedecken.
›Nun, meine lieben Freunde, bitte ich Sie um einen Gefallen. Sie haben gesehen, wozu die Untoten fähig sind, und wir wissen, sie sind unter uns. Sie müssen sich jede Minute vor ihnen schützen. Und Sie müssen nach Bulgarien reisen… so bald wie möglich… In den nächsten Tagen schon, wenn Sie es einrichten können. Rufen Sie mich in meiner Wohnung an, wenn Ihre Pläne feststehen.‹ Er sah mich eindringlich an. ›Wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, bevor Sie abreisen, wünsche ich Ihnen jetzt schon alles erdenkliche Glück und Wohlergehen. Ich werde jeden Augenblick an Sie denken. Bitte melden Sie sich, sobald Sie wieder in Istanbul sind – wenn Sie denn wieder hierher zurückkommen.‹
Ich hoffte, er meinte: wenn Ihre Reiseroute Sie durch Istanbul führt, und nicht: wenn Sie Bulgarien überleben. Er schüttelte uns herzlich die Hände, genau wie Selim, der anschließend auch noch sehr verschämt Helens Hand küsste.
›Wir gehen jetzt‹, sagte Helen schlicht und nahm meinen Arm. Und so verließen wir den traurigen Ort und gingen hinunter auf die Straße.
54
Mein erster Eindruck von Bulgarien – und auch meine Erinnerung später daran – war der von Bergen, hoch oben aus der Luft gesehen, von Bergen hoch und tief, dunkelgrün und unberührt von Straßen, wenn auch hier und da ein braunes Band Dörfer miteinander verknüpfte oder sich an plötzlich aufragenden nackten Felsen entlangwand. Helen saß schweigend neben mir, die Augen auf das kleine Fensterrund des Flugzeugs geheftet, die Hand in meiner unter dem Schutz des zusammengefalteten Jacketts. Ich spürte die Wärme ihrer Handfläche, die Kühle ihrer schlanken Finger und das Fehlen von Ringen. Gelegentlich waren glitzernde Adern in den Falten der Berge zu erkennen, die, wie ich dachte, Flüsse sein mussten, und ohne wirkliche Hoffnung suchte ich nach der Form eines sich windenden Drachenschwanzes, der Lösung unseres Rätsels. Aber natürlich passte nichts zu den Umrisslinien, die ich ständig im Geist vor mir sah. Es war auch nicht wahrscheinlich, mahnte ich mich, allein schon, um die Erwartung herabzusetzen, die beim Anblick dieser alten Berge unkontrolliert in mir aufstieg. Ihre Finsternis, der Eindruck, dass sie von der modernen Geschichte unberührt waren, das geheimnisvolle Fehlen von Städten, größeren Orten und Industrie machte mir Hoffnung. Je vollkommener die Vergangenheit in diesem Land versteckt war, desto besser würde sie erhalten sein. Die Mönche, über deren verlorener Spur wir in höchsten Höhen dahinflogen, waren durch Berge wie diese gezogen, vielleicht zwischen genau diesen Gipfeln hindurch, obwohl wir natürlich ihre Route nicht kannten. Ich teilte mich Helen mit, weil ich meine Hoffnungen laut ausgesprochen hören wollte. Sie schüttelte den Kopf. ›Wir wissen nicht sicher, ob sie in Bulgarien angekommen oder überhaupt je zu dieser Reise aufgebrochen sind‹, erinnerte sie mich, milderte die nüchterne Sachlichkeit ihres Tons aber mit einem Streicheln meiner Hand unter dem Jackett.
›Ich habe keine Ahnung von bulgarischer Geschichte‹, sagte ich. ›Ich bin hier verloren.‹
Helen lächelte. ›Ich bin zwar auch keine Expertin, aber ich kann dir sagen, dass im sechsten und siebten Jahrhundert Slawen von Norden aus ins Land eingewandert sind, und im siebten kam, glaube ich, ein Türkenvolk aus Zentralasien, die Protobulgaren, wie alte Schriften sie nennen. Klugerweise verbündeten sich die hier siedelnden slawischen Stämme mit ihnen gegen das Byzantinische Reich, und ihr erster gemeinsamer Anführer war der Protobulgare Asparuch. Im neunten Jahrhundert erklärte Zar Boris I. das Christentum zur Staatsreligion. Dennoch gilt er hier offenbar als großer Held. Vom elften bis zum beginnenden dreizehnten Jahrhundert herrschten die Byzantiner, anschließend fand Bulgarien wieder zu seiner Macht zurück, bis die Osmanen es 1393 auslöschten.‹
›Wann wurden die Osmanen wieder vertrieben?‹, fragte ich. Wir schienen wirklich überall auf sie zu stoßen.
›Nicht vor 1878‹, antwortete Helen. ›Die Russen halfen den Bulgaren, sie zu verjagen.‹
›Und in beiden Weltkriegen schlugen sich die Bulgaren auf die Seite der Achsenmächte.‹
›Ja, und mit den sowjetischen Truppen vor Kriegsende kam die
Weitere Kostenlose Bücher