Der Historiker
konnte ich jetzt nicht fragen, was dort stand, und ich fühlte mich ohne jeden Boden unter den Füßen, als der Mann in ein Lächeln ausbrach und mir dazu tatsächlich auch noch auf die Schulter klopfte. Er ging zu einem Telefon in einer der kleinen Kabinen und schien nach ziemlichen Mühen auch jemanden an den Hörer zu bekommen. Mir gefiel nicht, wie er in den Hörer lächelte und alle paar Sekunden zu uns herübersah. Helen trat unbehaglich von einem Bein auf das andere, und ich wusste, dass sie sicher noch mehr in all das hineinlas als ich.
Endlich legte der Beamte mit großer Geste den Hörer auf, half uns, unsere staubigen Koffer zu finden, und führte uns in eine Bar im Flughafen, wo er uns kleine Gläschen mit einem den Kopf entleerenden Schnaps namens rakiya bestellte und dabei selbst kräftig zulangte. Er fragte uns in verschiedenen gebrochenen Sprachen, wie lange wir bereits für die Revolution arbeiteten, wann wir in die Partei eingetreten seien und immer so weiter, was mich alles andere als beruhigte. Vielmehr grübelte ich noch mehr über die möglichen Ungenauigkeiten unseres Vorstellungsbriefes nach, folgte aber dennoch Helen und lächelte nur leicht oder machte neutrale Bemerkungen. Der Mann trank auf die Freundschaft der Arbeiter aller Völker und füllte ein weiteres Mal die Gläser. Wenn jemand von uns etwas sagte, irgendeine belanglose Bemerkung über unseren Besuch in seinem schönen Land machte, schüttelte er den Kopf mit einem breiten Lächeln, als wollte er uns widersprechen. Das drohte mich aus der Fassung zu bringen, bis Helen mir zuflüsterte, sie habe von dieser kulturellen Eigenart gelesen: Die Bulgaren schüttelten zustimmend den Kopf, wenn sie einer Meinung waren, und nickten, um etwas zu verneinen oder abzulehnen.
Als wir gerade so viel rakiya getrunken hatten, wie ich noch straflos vertragen konnte, wurden wir durch das Erscheinen eines mürrisch dreinblickenden Mannes mit dunklem Anzug und schwarzem Hut gerettet. Er war nur wenig älter als ich und hätte als gut aussehend gelten können, wäre auch nur einziges Mal irgendein Anflug von Freundlichkeit über seine Miene geglitten. Sein schwarzer Schnurrbart verbarg kaum die missbilligend geschürzten Lippen, ebenso wenig wie die ins Gesicht fallenden schwarzen Haare sein Stirnrunzeln. Der Beamte begrüßte ihn mit Ehrerbietung und stellte ihn als den uns zugewiesenen Begleiter vor, wobei er uns erklärte, wie privilegiert wir seien, schließlich werde Krassimir Ranov von der Regierung hoch geachtet, sei mit der Universität Sofia verbunden und kenne so gut wie nur irgendeiner die interessanten Punkte ihres alten und glorreichen Landes.
Durch den Schnapsnebel schüttelte ich die fischkalte Hand des Mannes und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass wir Bulgarien ohne diesen Führer würden erleben dürfen. Helen schien von der Sache weniger überrascht und begrüßte ihn mit genau der, wie ich dachte, richtigen Mischung aus Langeweile und Verachtung. Mr Ranov hatte immer noch kein Wort über die Lippen gebracht, aber er schien Helen gegenüber bereits eine herzliche Ablehnung zu empfinden, noch bevor der Beamte laut erklärte, dass sie Ungarin sei und in den Vereinigten Staaten studiere. Diese Erklärung brachte den Schnurrbart zum Zucken und zauberte ein grimmiges Lächeln auf sein Gesicht. ›Professor, Madam‹, sagte er, seine ersten Worte, und kehrte uns auch schon wieder den Rücken zu. Der Zollbeamte strahlte, schüttelte uns die Hände, schlug mir noch einmal auf die Schulter, als wären wir längst alte Freunde, und bedeutete uns mit einer Geste, dass wir Ranov folgen sollten.
Vor dem Flughafengebäude winkte Ranov ein Taxi heran, das die antiquierteste Innenausstattung hatte, die ich je bei einem Auto gesehen hatte. Es hatte schwarze Stoffsitze, die mit etwas gepolstert waren, das Pferdehaar hätte sein können. Ranov erklärte uns vom Vordersitz aus, dass in einem Hotel mit dem besten Ruf bereits Zimmer für uns bestellt seien. ›Ich glaube, Sie werden es dort angenehm finden. Es gibt ein ausgezeichnetes Restaurant. Morgen werden wir uns zum Frühstück dort treffen, und Sie dürfen mir die Natur Ihrer Forschungen erklären und wie ich Ihnen dabei helfen kann. Sie werden zweifellos mit Ihren Kollegen von der Universität Sofia und den entsprechenden Ministerien zusammentreffen wollen. Anschließend werden wir eine kleine Tour zu einigen historischen Orten Bulgariens für Sie ausrichten.‹ Er lächelte sauer, und ich
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