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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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    »Wo können wir schlafen?«, fragte Barley voller Zweifel. Wir standen in unserem Hotelzimmer in Perpignan, einem Doppelzimmer, das uns der ältliche Mann von der Rezeption, dem wir gesagt hatten, wir wären Geschwister, ohne ein Murren gegeben hatte, auch wenn er uns argwöhnisch musterte. Wir konnten uns keine getrennten Zimmer leisten, das wussten wir beide. »Nun?«, sagte Barley ein wenig ungeduldig. Wir sahen zum Bett hinüber. Es gab keinen anderen Platz, nicht mal einen kleinen Teppich auf dem nackten, glänzenden Boden. Endlich traf Barley eine Entscheidung, für sich selbst wenigstens. Während ich noch immer reglos dastand, ging er mit ein paar Sachen und einer Zahnbürste ins Bad und kam Minuten später in einem Baumwollpyjama wieder heraus, der so hell war wie sein Haar. Etwas an diesem Bild und seinem vergeblichen Versuch, lässig zu wirken, ließ mich auflachen, obwohl meine Wangen brannten, und dann lachte auch er. Wir lachten beide, bis uns die Tränen über die Wangen liefen. Barley krümmte sich vor Lachen, verschränkte die Arme, und ich hielt mich an dem tristen alten Kleiderschrank fest. Unser hysterisches Lachen ließ alle Anspannung der Reise, meine Furcht, Barleys Missbilligung, die Briefe meines Vaters und unsere Streitereien von uns abfallen. Jahre später lernte ich den Begriff des fou rire kennen – des verrückten Lachanfalls. Hier, in diesem französischen Hotel, machte ich meine erste praktische Erfahrung damit. Meinem ersten fou rire folgte eine andere Ersterfahrung, als wir aufeinander zutaumelten. Barley fasste mich bei den Schultern, und zwar ebenso wenig elegant, wie ich noch vor einem Moment den Schrank gepackt gehalten hatte, aber sein Kuss war himmlisch anmutig. Seine jugendliche Erfahrung drängte sich sanft in meine völlige Unerfahrenheit. Wie durch unser Lachen fühlte ich mich bis ins Innerste berührt.
    All mein Wissen über die körperliche Liebe hatte ich aus freundlich zurückhaltenden Filmen und verwirrenden Büchern, und ich wusste kaum, wie es weitergehen sollte. Also übernahm Barley die Führung, und so dankbar wie unbeholfen folgte ich ihm. Als wir uns auf dem alten, ordentlichen Bett wiederfanden, hatte ich bereits etwas über die Verhandlungen zwischen Liebenden gelernt, was ihre Kleidung anging. Jedes Kleidungsstück schien mir eine bedeutsame Entscheidung, zuallererst Barleys Schlafanzugjacke. Ihr Entfernen brachte einen Alabasterkörper mit überraschend muskulösen Schultern zum Vorschein. Das Abstreifen meiner Bluse und meines Büstenhalters war so sehr meine Entscheidung wie seine. Er sagte mir, dass ihm die Farbe meiner Haut sehr gefalle, weil sie ganz anders sei als seine, und es stimmte, dass mein Arm nie so olivenfarben aussah wie jetzt, wo er neben Barleys schneeweißer Haut lag. Er strich mit der flachen Hand über meinen Körper bis hinunter über die noch verbliebenen Kleider, und ich tat es ihm nach und entdeckte die fremden Konturen des Mannes. Verschämt schien ich mich über die Krater des Mondes zu tasten. Mein Herz klopfte mit solch einer Wucht in mir, dass ich Angst hatte, er könnte es fühlen.
    Es gab so viel zu tun und auf so viel zu achten, dass wir keine weiteren Kleider ablegten. Sehr viel Zeit schien zu vergehen, bevor Barley mich mit einem erstickten Seufzen an sich zog, mir seinen Arm besitzergreifend um Schultern und Hals legte und »Du bist noch ein Kind« murmelte.
    Als er das sagte, wusste ich plötzlich, dass auch er noch ein Kind war, ein »ehrenhaftes« Kind. Und ich glaube, ich habe ihn in diesem Moment mehr geliebt als irgendwann sonst.

 
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    Die Wohnung, in der Turgut Bora Mr Erozan untergebracht hatte, lag vielleicht zehn Minuten zu Fuß von seiner entfernt, allerdings rannten wir, auch Helen in ihren hochhackigen Schuhen. Turgut schimpfte vor sich hin. Er hatte eine kleine schwarze Tasche bei sich, in der sich, wie ich dachte, eine Ausrüstung für erste Hilfe befand, für den Fall, dass der Arzt nicht oder nicht schnell genug kam. Endlich stiegen wir die hölzerne Treppe eines mehrstöckigen alten Hauses hinauf. Wir liefen hinter Turgut her, der im obersten Stock eine Tür aufwarf.
    Das Haus war offenbar in winzig kleine Wohneinheiten aufgeteilt. Der Raum der Einzimmerwohnung, in die wir kamen, war mit einem Bett, Stühlen und einem Tisch möbliert und wurde von einer einzigen Lampe erleuchtet. Turguts Freund lag mit einer Decke über sich auf dem Boden, und ein stammelnder

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