Der Historiker
starrte ihn mit wachsendem Entsetzen an. Sein Englisch war zu gut. Trotz seines klaren Akzents besaß es den tonlos korrekten Fluss der Aufnahmen, mit denen man eine Sprache in dreißig Tagen erlernte.
Auch sein Gesicht hatte etwas Vertrautes. Ich hatte ihn ganz bestimmt nie zuvor gesehen, aber er erinnerte mich an jemanden, den ich kannte, ohne dass ich hätte sagen können, wer um alles in der Welt das war – was die Sache noch unbefriedigender machte. Das Gefühl hielt den ganzen ersten Tag über an und verfolgte mich auf unserer viel zu eng geführten Tour durch die Stadt. Sofia war eine herbe Schönheit, eine Mischung aus hundert Jahre alter Eleganz, mittelalterlicher Pracht und glänzenden Fassaden neuer Monumente im sozialistischen Stil. Im Zentrum der Stadt besichtigten wir ein finsteres Mausoleum, in dem der einbalsamierte Körper des stalinistischen Diktators Georgi Dimitrow ruhte, der fünf Jahre zuvor verstorben war. Ranov nahm den Hut ab, bevor er das Gebäude betrat, und schob Helen und mich vor sich her. Wir reihten uns zwischen schweigsame Bulgaren, die eine Schlange bildeten, um an Dimitrows offenem Sarg vorbeizugehen. Das Gesicht des Diktators war wächsern, mit einem dunklen Schnurrbart, wie auch Ranov ihn trug. Ich dachte an Stalin, dessen Leichnam, wie es hieß, auf dem Roten Platz neben Lenins aufgebahrt worden sei, in einem ähnlichen Schrein wie diesem. Diese atheistischen Kulturen waren zweifellos emsig damit beschäftigt, die Reliquien ihrer Heiligen zu bewahren.
Meine düsteren Vorahnungen in Bezug auf unseren Führer bestätigten sich und verstärkten sich noch, als ich ihn fragte, ob er uns mit Anton Stoichev zusammenbringen könne. Ranov wich zurück. ›Mr Stoichev ist ein Feind des Volkes‹, versicherte er uns in seinem gereizten Ton. ›Warum wollen Sie ihn sehen?‹ Und dann, seltsamerweise: ›Wenn Sie es möchten, kann ich es natürlich einrichten. Er lehrt nicht mehr an der Universität – bei seinen religiösen Ansichten konnte man ihm unsere Jugend nicht mehr anvertrauen. Aber er ist berühmt, und vielleicht wollen Sie ihn deshalb sehen?‹
›Ranov hat den Auftrag, uns zu verschaffen, was immer wir wollen‹, sagte Helen leise, als wir vor dem Hotel einen Moment für uns hatten. ›Warum? Warum hält das jemand für eine gute Idee?‹ Ängstlich sahen wir einander an.
›Ich wünschte, ich wüsste es‹, sagte ich.
›Wir werden sehr, sehr vorsichtig sein müssen.‹ Helens Gesicht war ernst, ihre Stimme leise, und ich traute mich nicht, sie in der Öffentlichkeit zu küssen. ›Lass uns beschließen, dass wir ihm nichts als unsere wissenschaftlichen Interessen offenbaren, und auch davon so wenig wie möglich. Wenn wir überhaupt vor ihm darüber sprechen müssen.‹
›Einverstanden.‹
55
In diesen letzten Jahren habe ich immer wieder an jenen Augenblick denken müssen, als wir zum ersten Mal zu Stoichevs Haus kamen. Vielleicht hat es einen so tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, weil sein Heim draußen vor den Toren der Stadt in einem so starken Gegensatz zu Sofia stand, aber vielleicht ist mir der Anblick des Hauses auch wegen Stoichev selbst und der besonderen feinsinnigen Natur seines Auftretens so gut in Erinnerung geblieben. Im Moment denke ich jedoch, dass ich diese heftige, fast schon atemlose Vorfreude empfinde, wenn ich an Stoichevs Eingangstor denke, weil das Treffen mit ihm den Wendepunkt unserer Suche nach Rossi markierte.
Viel später, als ich von den Klöstern außerhalb der Mauern des byzantinischen Konstantinopel las, von Heiligtümern, in welche die Bürger mitunter vor städtischen Edikten flohen, die das eine oder andere kirchliche Ritual betrafen – wo sie nicht mehr von den großen Stadtmauern geschützt wurden, aber doch ein Stück außer Reichweite des tyrannischen Staates lebten –, da musste ich an Stoichev denken: seinen Garten, die sich biegenden, weiß betupften Apfel- und Kirschbäume, das Haus mitten in dieser, das junge Grün und die blauen Bienenstöcke, das alte zweiflügelige Holztor mit dem Portal darüber, das uns zunächst noch aussperrte, und die ruhige Atmosphäre über allem, von Andacht und bewusstem Rückzug.
Wir standen vor dem Tor, während sich der Staub um Ranovs Auto senkte. Helen war die Erste und fasste den Griff eines der alten Riegel. Ranov hing missmutig zurück, als hasste er es, hier gesehen zu werden, selbst von uns, und ich fühlte mich seltsam mit dem Boden verwurzelt. Ich war
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