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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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hat sie es gelernt, und sie wurde dreiundneunzig.‹
    Jetzt wollte Baba Yanka uns etwas fragen. Als sie den Blick auf uns richtete, sah ich, wie wunderschön ihre Augen waren, mandelförmig unter der sonnen- und windgegerbten Haut und goldbraun, fast bernsteinfarben, und das Rot der Blumen ihres Kopftuchs ließ sie noch heller erscheinen. Sie nickte ungläubig, als wir ihr sagten, wir kämen aus Amerika.
    ›Amerika?‹ Sie schien den Gedanken in ihrem Kopf hin und her zu bewegen. ›Das muss hinter dem Berg sein.‹
    ›Sie ist eine alte ungebildete Frau‹, meinte Ranov. ›Die Regierung tut ihr Bestes, um den Bildungsstandard zu erhöhen. Das ist eine wichtige Aufgabe.‹
    Helen hatte ein Stück Papier hervorgeholt, und jetzt griff sie nach der Hand der Frau. ›Fragen Sie, ob sie ein Lied wie dieses kennt – Sie werden es für sie übersetzen müssen: Der Drache kam über unser Tal. Verbrannte die Ernte und stahl unsere Mädchen.‹
    Ranov übersetzte das für Baba Yanka, die aufmerksam zuhörte, aber dann plötzlich zog sich ihr Gesicht vor Angst und Verdruss zusammen. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und bekreuzigte sich schnell. ›Ne!‹, sagte sie heftig und zog ihre Hand aus Helens Hand. ›Ne, ne!‹
    Ranov zuckte mit den Schultern. ›Das verstehen Sie. Sie kennt es nicht.‹
    ›Aber natürlich kennt sie es‹, sagte ich ruhig. ›Fragen Sie, warum sie Angst hat, mit uns darüber zu sprechen.‹
    Das Gesicht der Frau wirkte plötzlich wie versteinert. ›Sie will dazu nichts sagen‹, erklärte Ranov.
    ›Sagen Sie ihr, sie bekommt eine Belohnung.‹ Ranovs Brauen hoben sich, aber er gab das Angebot dennoch an Baba Yanka weiter. ›Sie sagt, wir müssen die Tür schließen.‹ Er stand auf, schloss ruhig die Tür und die hölzernen Fensterläden und verwehrte den Zuschauern draußen so jeden Blick zu uns herein. ›Jetzt wird sie singen.‹
    Es hätte keinen größeren Unterschied zwischen Baba Yankas erstem Vortrag und diesem geben können. Sie schien auf ihrem Stuhl zu schrumpfen, kauerte sich zusammen und sah auf den Boden. Ihr freundliches Lächeln war verschwunden, und ihre schönen Augen starrten auf unsere Füße. Die Melodie, die aus ihr herauskam, war fraglos voller Melancholie, auch wenn die letzte Zeile für mich mit einer trotzigen Note endete. Ranov übersetzte vorsichtig. Warum, fragte ich mich wieder, war er so hilfreich?
     
    Der Drache kam über unser Tal
    Verbrannte die Ernte und stahl unsere Mädchen.
    Schreckte die türkischen Ungläubigen,
    schützte unsere Dörfer.
    Sein Atem trocknete die Flüsse, und wir gingen hindurch.
    Jetzt müssen wir uns verteidigen.
    Der Drache war unser Schutzherr,
    Aber jetzt verteidigen wir uns gegen ihn.
     
    ›Nun‹, sagte Ranov. ›Ist es das, was Sie hören wollten?‹
    ›Ja.‹ Helen klopfte beruhigend auf Baba Yankas Hand, aber die alte Frau brach in Schimpfen aus. ›Fragen Sie, woher das Lied stammt, und warum sie Angst davor hat‹, bat Helen.
    Ranov brauchte ein paar Minuten, um sich durch Baba Yankas Anwürfe zu kämpfen. ›Sie hat dieses Lied von ihrer Urgroßmutter gelernt, die ihr sagte, es nie nach Einbruch der Dunkelheit zu singen. Das Lied bringt Unglück. Es klingt nach Glück, aber es bedeutet Unglück. Sie singen es hier nur am Tag des heiligen Georg. Das ist der einzige Tag, an dem man es ohne Gefahr singen kann, ohne dass es Unglück bringt. Sie hofft, dass Sie jetzt nicht ihre Kuh damit umgebracht haben, oder Schlimmeres.‹
    Helen lächelte. ›Sagen Sie ihr, dass ich eine Belohnung für sie habe, ein Geschenk, das alles Unglück verjagt und es durch Glück ersetzt.‹ Sie öffnete Baba Yankas Hand und legte ein silbernes Medaillon hinein. ›Es ist von einem sehr frommen, weisen Mann, und er schickt es ihr zum Schutz. Der Heilige darauf ist Sveti Ivan Rilski, ein großer bulgarischer Heiliger.‹ Es musste das kleine Objekt sein, das Stoichev Helen gegeben hatte. Baba Yanka betrachtete es eine Weile, drehte es in ihrer rauen Hand, hob es an die Lippen und küsste es. Dann schob sie es in eine versteckte Tasche ihrer Schürze. ›Blagodarya‹, sagte sie und küsste ebenfalls Helens Hand. Sie befühlte das Medaillon noch in der Tasche, als hätte sie eine lange verlorene Tochter wiedergefunden. Helen wandte sich an Ranov. ›Fragen Sie bitte, was das Lied bedeutet und woher es stammt. Und warum singen sie es am Tag des heiligen Georg?‹
    Baba Yanka zuckte mit den Schultern. ›Das Lied bedeutet nichts. Es ist einfach

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