Der Historiker
würde, aber sie bewegte sich mit viel Energie durch den Raum, und ich begriff langsam, dass sie noch gar nicht so alt war. Ich flüsterte meine Beobachtung Helen zu, und sie nickte. ›Vielleicht fünfzig‹, flüsterte sie zurück.
Die Zahl berührte mich seltsam heftig. Meine Mutter in Boston hätte mit ihren zweiundfünfzig Jahren dem Aussehen nach die Enkelin dieser Frau sein können. Baba Yankas Hände waren so knotig und rau wie ihre Füße flink, und ich verfolgte, wie sie mit Tüchern abgedeckte Schüsseln hervorholte und Gläser vor uns hinstellte. Ich konnte mir kaum vorstellen, was sie mit diesen Händen ihr Leben lang gemacht haben musste, damit sie so aussahen. Bäume gefällt vielleicht, Holz gehackt, Felder abgeerntet, bei Kälte und Hitze gearbeitet. Während sie den Tisch deckte, warf sie uns ein, zwei verstohlene Blicke zu, die von einem schnellen Lächeln begleitet wurden, und schenkte uns schließlich ein Getränk ein – etwas Weißes, Dickflüssiges –, das Ranov gleich hinunterschüttete, worauf er nickte und sich den Mund mit seinem Taschentuch abwischte. Ich tat es ihm nach, aber das Zeug brachte mich fast um. Es war lauwarm und schmeckte eindeutig nach Tier. Ich versuchte, mir mein Würgen nicht anmerken zu lassen, als Baba Yanka mich anstrahlte. Helen trank ihr Glas mit Würde, und Baba Yanka tätschelte ihr die Hand. ›Schafsmilch mit Wasser‹, sagte Helen zu mir. ›Denk einfach, es wär ein Milchshake.‹
›Ich werde ihr jetzt sagen, dass sie singen soll‹, erklärte Ranov. ›Das wollen Sie doch, nicht wahr?‹ Er besprach sich mit Bruder Ivan, der sich an Baba Yanka wandte. Die Frau schreckte jedoch zurück und nickte verzweifelt mit dem Kopf. Nein, sie würde nicht singen. Das wollte sie ganz eindeutig nicht. Sie machte eine Geste in unsere Richtung und versteckte ihre Hände unter der Schürze. Aber Bruder Ivan gab nicht nach.
›Wir werden ihr sagen, sie soll singen, was immer sie singen will‹, erklärte Ranov. ›Und danach fragen Sie nach dem Lied, das Sie hören wollen.‹
Baba Yanka schien ihren Widerstand aufgegeben zu haben, und ich fragte mich, ob das Ganze nur ein Bescheidenheitsritual gewesen war, denn sie lächelte schon wieder. Sie seufzte und zog die Schultern unter ihrer abgetragenen, mit roten Blumen bedruckten Bluse hoch. Sie sah uns ohne Arg an und begann zu singen. Ihre Stimme war erstaunlich – zunächst einmal erstaunlich laut, so dass die Gläser auf dem Tisch zu klirren begannen und die Leute von draußen vor der Tür, wo sich das halbe Dorf versammelt zu haben schien, die Köpfe hereinsteckten. Ihr Gesang schallte von den Wänden und vom Boden unter unseren Füßen wider und brachte die Zwiebeln und Paprika zum Schwingen, die über dem alten Herd hingen. Unbemerkt griff ich nach Helens Hand. Erst schüttelte uns eine Note, dann eine andere, jede lang und langsam, jede eine Klage der Entbehrung und der Hoffnungslosigkeit. Ich erinnerte mich an die junge Frau, die sich von der Felswand stürzte, um nicht in den Harem des Paschas deportiert zu werden, und fragte mich, ob es um etwas Ähnliches ging. Aber seltsamerweise lächelte Baba Yanka zu jedem Ton, atmete äußerst tief ein und strahlte uns an. Überwältigt und still hörten wir ihr zu, bis sie ans Ende kam. Die letzte Note schien auf ewig in dem winzigen Haus zu hängen.
›Bitte fragen Sie nach dem Text des Lieds‹, bat Helen Ranov.
Mühsam, was ihrem Lächeln aber nichts nahm, rezitierte Baba Yanka die Worte des Liedes, und Ranov übersetzte.
Der Held lag sterbend oben auf dem grünen Berg.
Der Held lag sterbend mit neun Wunden in der Seite.
Oh, du Falke, flieg zu ihm und sag ihm,
seine Männer sind sicher.
Sicher in den Bergen, alle seine Männer.
Der Held hatte neun Wunden in der Seite,
Aber es war die zehnte, die ihn tötete.
Baba Yanka klärte irgendeinen Punkt mit Ranov, und als sie fertig war, strahlte sie noch immer und hob warnend die Hand in seine Richtung. Ich hatte das Gefühl, dass sie ihm den Hintern versohlen und ihn ohne Essen ins Bett schicken würde, wenn er in ihrem Haus etwas Falsches täte. ›Fragen Sie, wie alt das Lied ist‹, bat Helen, ›und wo sie es gelernt hat.‹
Ranov fragte sie, und Baba Yanka brach in schallendes Gelächter aus, machte eine Geste über die Schulter und wedelte mit den Armen. Ranov musste tatsächlich grinsen. ›Sie sagt, das Lied ist so alt wie die Berge, und nicht mal ihre Urgroßmutter wusste, was es bedeutet. Von ihr
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