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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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nur ein altes Lied, das Unglück bringt. Meine Urgroßmutter hat mir gesagt, dass einige Leute glauben, es stamme aus einem Kloster. Aber das ist nicht möglich, weil Mönche keine solchen Lieder singen. Sie singen Gott zum Lob. Wir singen es am Tag des heiligen Georg, weil es Sveti Georgi bittet, den Drachen zu töten und die Qualen der Menschen zu beenden.‹
    ›Aus welchem Kloster?‹, rief ich. ›Fragen Sie, ob sie ein Kloster kennt, das Sveti Georgi heißt, eines, das vor langer Zeit verschwunden ist.‹
    Aber Baba Yanka schüttelte nur den Kopf und schnalzte mit der Zunge. ›Es gibt hier kein Kloster. Das Kloster ist in Bachkovo. Wir haben nur eine Kirche, wo ich heute Nachmittag mit meiner Schwester singe.‹
    Ich stöhnte und bat Ranov, noch einmal zu fragen. Dieses Mal schnalzte auch er mit der Zunge. ›Sie sagt, sie kennt kein Kloster. Hier hat es nie ein Kloster gegeben.‹
    ›Wann ist der Tag des heiligen Georg?‹, fragte ich.
    ›Am fünften Mai.‹ Ranov sah mir unverwandt in die Augen. ›Den haben Sie dieses Jahr verpasst.‹
    Ich schwieg, aber Baba Yanka erwachte langsam wieder zu ihrem alten Selbst. Sie schüttelte unsere Hände, küsste Helen und nahm uns das Versprechen ab, sie nachmittags singen zu hören. ›Es ist viel schöner mit meiner Schwester. Sie singt die zweite Stimme.‹
    Wir sagten ihr, wir kämen sicher. Sie bestand darauf, uns etwas von ihrem Mittagessen abzugeben, das sie gerade zubereitet hatte, als wir an ihre Türe gekommen waren; es waren Kartoffeln und eine Art Schleimsuppe, und mehr von der Schafsmilch, an die ich mich hätte gewöhnen können, wäre ich noch ein paar Monate länger geblieben. Wir aßen so dankbar wir konnten und lobten ihre Kochkünste, bis Ranov sagte, wir sollten zurück zur Kirche gehen, wenn wir den Beginn der Messe miterleben wollten. Baba Yanka wollte uns nicht so leicht gehen lassen, sie drückte unsere Hände und tätschelte Helens Wangen.
    Das Feuer bei der Kirche war fast heruntergebrannt, auch wenn aus ein paar Scheiten oben auf der Kohle noch Flammen schlugen, blass in der hellen Nachmittagssonne. Die Dorfbewohner hatten sich bereits vor der Kirche zu sammeln begonnen, und nun läuteten die Glocken oben in ihrem steinernen Turm. Der junge Priester kam an die Tür. Er war jetzt in Rot und Gold gekleidet und trug einen bestickten Umhang über dem langen Rock und einen hinten über der hohen Kappe drapierten schwarzen Schleier, in der Rechten ein goldenes Rauchfass, das er an drei Ketten vor der Kirchentür strahlenförmig in drei Richtungen schwenkte.
    Die Dorfbewohner – Frauen, die wie Baba Yanka von Kopf bis Fuß in Streifen und Blumen oder Schwarz gekleidet waren, und Männer in groben braunen Wollwesten und Hosen und mit weißen, bis zum Hals zugeknöpften oder zugebundenen Hemden – traten ein Stück zurück, als der Priester aus der Kirche kam. Er mischte sich unter sie und segnete sie mit dem Kreuzzeichen; einige senkten den Kopf oder verbeugten sich tief vor ihm. Hinter ihm ging ein älterer Mann, der wie ein Mönch in schlichtes Schwarz gekleidet war und den ich für seinen Helfer hielt. Dieser Mann trug eine Ikone, die mit purpurner Seide behängt war. Ich warf einen schnellen Blick darauf – es war ein steifes, blasses, dunkeläugiges Gesicht. Das muss Sveti Petko sein, dachte ich. Die Dörfler folgten der Ikone schweigend um die Kirche, viele von ihnen stützten sich auf Stöcke oder die Arme der Jüngeren. Baba Yanka fand uns und nahm stolz meinen Arm, als wollte sie ihren Nachbarn zeigen, was für gute Verbindungen sie hatte. Alle starrten uns an. Wir fanden mindestens so viel Beachtung wie die Ikone.
    Die beiden Priester führten die Prozession ohne ein Wort um die Kirche herum auf die andere Seite, wo wir das Feuer sehen und den Rauch riechen konnten, der davon aufstieg. Die Flammen waren so gut wie verloschen, die letzten Scheite und Äste leuchteten längst tieforange, und alles zerfiel in eine einzige Masse glühender Holzkohle. Die Prozession umrundete die Kirche dreimal, dann blieb der Priester wieder am Portal stehen und fing an zu singen. Von Zeit zu Zeit antwortete ihm sein älterer Helfer, und manchmal murmelte auch die Gemeinde eine Antwort, bekreuzigte oder verbeugte sich. Baba Yanka hatte meinen Arm wieder losgelassen, war aber neben mir stehen geblieben. Helen beobachtete das alles mit großem Interesse, genau wie Ranov.
    Nach dieser Zeremonie im Freien folgten wir den Menschen in die Kirche, die mir nach den

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