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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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– und auch du, glaube ich. Ich bin eine einsame Frau in einer Bibliothek, putze mir die Nase und mache Notizen. Ich frage mich, ob jemals ein Mensch so allein war wie ich hier – hier und in meinem Hotelzimmer. In der Öffentlichkeit trage ich mein Halstuch oder eine hoch geschlossene Bluse. Wenn ich am Mittagstisch sitze und allein für mich esse und mich jemand anlächelt, lächle ich zurück. Dann sehe ich weg. Du bist nicht der einzige Mensch, mit dem ich nicht zusammen sein kann.
    Deine dich liebende Mutter, Helen
     
     
    Februar 1964
    Meine geliebte Tochter,
    Athen ist schmutzig und laut, und es ist schwer, Zugang zu den Dokumenten zu bekommen, die mich im Institut für Griechenland im Mittelalter interessieren, das ebenso mittelalterlich zu sein scheint wie seine Materialien. Aber heute Morgen sitze ich auf der Akropolis und kann mir fast vorstellen, dass unsere Trennung eines Tages vorüber sein wird und wir zusammen, du vielleicht längst eine erwachsene Frau, auf den verfallenen Steinen hier sitzen und auf die Stadt hinabblicken. Du wirst groß sein, wie ich, wie dein Vater, mit welligem dunklem Haar – sehr kurz oder in einem dicken Zopf? –, wirst eine Sonnenbrille und Wanderschuhe tragen und vielleicht auch ein Tuch um den Kopf, wenn der Wind so rau geht wie heute. Und ich werde alt sein, faltig und stolz allein auf dich. Die Kellner in den Cafés werden dich ansehen, nicht mich, und ich werde stolz lachen, und dein Vater wird ihnen über seine Zeitung hinweg Blicke zuwerfen.
    Deine dich liebende Mutter, Helen
     
     
    März 1964
    Meine geliebte Tochter,
    mein Traum von uns gemeinsam auf der Akropolis war so intensiv, dass ich heute Morgen noch einmal zu ihr hinaufgestiegen bin, nur um dir zu schreiben. Aber als ich dann dort oben saß, mit der Stadt unter mir, fing die Wunde an meinem Hals an zu pochen, und ich hatte das Gefühl, dass mich jemand von ganz nah beobachtete. So konnte ich nicht schreiben, sondern mich nur unter den Touristengruppen umsehen, ob mir jemand verdächtig vorkam. Ich kann nicht verstehen, warum dieser Teufel nicht längst durch die Jahrhunderte gekommen ist, um mich zu holen. Ich gehöre ihm längst, bin verseucht und sehne mich leicht nach ihm. Warum bewegt er sich nicht und erlöst mich von meinem Übel? Aber kaum denke ich das, wird mir klar, dass ich ihm auch weiter widerstehen und mich mit sämtlichen Abwehrmitteln umgeben muss, die es gibt; dass ich seine Zufluchten ausfindig machen und darauf hoffen muss, ihn in einer davon zu erwischen, und das so unerwartet, dass ich womöglich Geschichte schreiben und ihn zerstören werde.
    Du, mein verlorener Engel, du bist das Feuer hinter diesem verzweifelten Streben.
    Deine dich liebende Mutter, Helen

 
    71
     
     
     
    Ich weiß nicht, wer von uns beiden zuerst nach Luft schnappte, als wir die Ikone sahen, die Baba Yanka trug, aber wir ließen uns beide nichts weiter anmerken. Ranov lehnte ein paar Meter entfernt an einem Baum und blickte zu meiner Erleichterung gelangweilt auf das Tal hinaus. Er war mit seiner Zigarette beschäftigt und hatte die Ikone offenbar nicht gesehen. Ein paar Sekunden später wandte sich Baba Yanka wieder von uns ab, und sie und die alte Frau tanzten mit dem gleichen lebendigen, würdigen Schritt aus dem Feuer und auf den Priester zu. Sie gaben die Ikonen den beiden Jungen zurück, die sie gleich wieder bedeckten. Ich behielt Ranov im Auge. Der Priester segnete die Frauen, und sie wurden von Bruder Ivan zur Seite geführt, der ihnen Wasser zu trinken gab. Baba Yanka warf uns einen stolzen Blick zu, als sie an uns vorbeikam, ein Lächeln lag auf ihrem geröteten Gesicht, sie zwinkerte fast, und Helen und ich verbeugten uns ehrfürchtig vor ihr. Ich sah vorsichtig auf ihre bloßen Füße, die wie die der anderen Frau völlig unverletzt zu sein schienen. Nur die Gesichter gaben Zeugnis von der Hitze des Feuers; sie waren rot wie nach zu viel Sonne.
    ›Der Drache‹, murmelte mir Helen zu, als wir ihnen nachsahen.
    ›Ja‹, sagte ich. ›Wir müssen herausfinden, wo sie das Bild aufbewahren und wie alt es ist. Komm. Der Priester hat uns doch einen Rundgang durch die Kirche versprochen.‹
    ›Was ist mit Ranov?‹ Helen sah sich nicht nach ihm um.
    ›Wir beten einfach, dass er uns nicht folgt‹, sagte ich. ›Ich glaube nicht, dass er die Ikone gesehen hat.‹
    Der Priester ging zurück in die Kirche, und die Dorfbewohner machten sich auf den Heimweg. Wir gingen ihm langsam nach. Als wir in die

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