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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Hauses.
    Die Bibliothek meines Vaters war wahrscheinlich einmal ein Wohnzimmer gewesen, das er jedoch nur zum Lesen benutzte, und in seinen Augen war eine große Bibliothek wichtiger als ein großes Wohnzimmer. Seit langer Zeit schon gewährte er mir freien Zugang zu seinen Büchern. Wenn er nicht da war, saß ich stundenlang über meinen Hausarbeiten am Mahagonischreibtisch der Bibliothek oder stöberte in den Regalen, die rundum liefen. Ich begriff erst später, dass mein Vater entweder halb vergessen haben musste, was sich auf einem der obersten Regalbretter befand, oder dass er – was wahrscheinlicher ist – davon ausging, ich würde es nicht erreichen. Eines Abends holte ich nicht nur eine Übersetzung des Kamasutra herunter, sondern auch einen weit älteren Band und einen Umschlag mit vergilbten Papieren.
    Ich kann auch heute noch nicht sagen, was mich dazu brachte, beides aus dem Regal zu nehmen. Aber die Abbildung, die mitten auf dem Buch prangte, der Geruch des Alters, den es verströmte, und meine Entdeckung, dass es sich bei den Papieren um persönliche Briefe handelte, all das machte mich äußerst aufmerksam. Ich wusste, ich sollte die Nase nicht in die persönlichen Dinge meines Vaters stecken, oder die eines anderen, und ich hatte Angst, dass Mrs Clay plötzlich hereinschneien würde, um zu dieser Stunde den staubfreien Schreibtisch abzustauben – weshalb ich wahrscheinlich immer wieder über die Schulter zur Tür sah. Aber ich konnte nicht anders, ich musste den ersten Absatz des zuoberst liegenden Briefes lesen, und stand minutenlang mit dem Brief in der Hand vor dem Regal.
     
    12. Dezember 1930
    Trinity College, Oxford
    Mein lieber, unglücklicher Nachfolger,
    mit Bedauern stelle ich Sie mir vor, wie Sie, wer immer Sie sein mögen, den Bericht lesen, den ich hier zu verfassen habe. Das Bedauern gilt zum Teil mir selbst, weil ich sicher in Schwierigkeiten stecken, vielleicht sogar tot sein werde, oder Schlimmeres noch, wenn Sie diese Worte lesen. Aber mein Bedauern gilt auch Ihnen, mein mir noch unbekannter Freund, denn nur jemand, der solch abscheuliche Informationen braucht, wird diesen Brief eines Tages lesen. Wenn Sie nicht in anderem Sinne mein Nachfolger sind, werden Sie bald schon mein Erbe sein, und es erfüllt mich mit Trauer, dass ich einem anderen Menschen meine eigene, vielleicht unglaubliche Erfahrung des Bösen vermachen muss. Warum ich selbst sie geerbt habe, vermag ich nicht zu sagen, aber ich hoffe, es am Ende herauszufinden, vielleicht während ich Ihnen schreibe – oder auch im Verlauf der weiteren Ereignisse.
     
    An diesem Punkt veranlasste mich mein Schuldgefühl – und noch etwas anderes –, den Brief hastig zurück in seinen Umschlag zu stecken, aber ich dachte den ganzen Tag über an ihn, und auch den nächsten über. Als mein Vater von seiner Reise zurückkehrte, suchte ich nach einer Gelegenheit, ihn nach den Briefen und dem merkwürdigen Buch zu fragen. Ich wartete darauf, dass er Zeit hatte und wir beide allein waren, aber er war in jenen Tagen sehr beschäftigt, und etwas an dem, was ich da gefunden hatte, ließ mich zögern, ihn darauf anzusprechen. Schließlich bat ich ihn eindrücklich, mich auf seine nächste Reise mitzunehmen. Es war das erste Mal, dass ich ein Geheimnis vor ihm hatte, und auch das erste Mal, dass ich auf etwas bestand.
    Widerstrebend erklärte sich mein Vater einverstanden. Er sprach mit meinen Lehrern und mit Mrs Clay und erinnerte mich daran, dass ich reichlich Zeit für meine Hausaufgaben haben würde, während er in Besprechungen war. Das wunderte mich nicht, denn als Diplomatenkind war ich Warten gewöhnt. Ich packte meinen marineblauen Koffer und nahm meine Schulbücher und viel zu viele Kniestrümpfe mit. Statt an diesem Morgen zur Schule zu gehen, reiste ich mit meinem Vater und ging schweigend und glücklich neben ihm zum Bahnhof. Ein Zug brachte uns nach Wien; mein Vater hasste Flugzeuge, die, wie er sagte, das Reisen um die Reise betrogen. In Wien verbrachten wir eine kurze Nacht in einem Hotel. Ein weiterer Zug brachte uns über die Alpen, vorbei an all den weißen und blauen Gipfeln unserer Landkarte zu Hause. Vor einem staubigen gelben Bahnhof startete mein Vater schließlich unseren Mietwagen, und ich hielt den Atem an, bis wir durch das Tor einer Stadt kamen, von der er mir so oft erzählt hatte, dass ich sie schon in meinen Träumen hatte sehen können.
    Am Fuß der slowenischen Alpen hält der Herbst früh Einzug. Noch vor

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