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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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September folgt auf die reiche Ernte ein plötzlicher heftiger Regen, der mehrere Tage anhält und die ersten Blätter auf die Straßen der Dörfer fallen lässt. Heute, in meinen Fünfzigern, wandern meine Gedanken alle paar Jahre dorthin, und ich durchlebe noch einmal meine erste Begegnung mit der slowenischen Landschaft. Es ist altes Kulturland. Jeder Herbst lässt es etwas weicher werden, in aeternum – in alle Ewigkeit. Es beginnt immer mit denselben drei Farben: einer grünen Landschaft und zwei, drei gelben fallenden Blättern an einem grauen Nachmittag. Ich nehme an, dass die Römer – die ihre Mauern hier zurückgelassen haben und im Westen an der Küste ihre gewaltigen Arenen – den gleichen Herbst erlebten und den gleichen Schauder. Als der Wagen meines Vaters in das Tor der ältesten der julianischen Städte einbog, schlang ich mir die Arme um die Brust. Zum ersten Mal empfand ich die Erregung des Reisenden, der der Geschichte in ihr fein gezeichnetes Gesicht sieht.
    Weil meine Geschichte in dieser Stadt beginnt, werde ich ihren römischen Namen Emona benutzen, um sie ein wenig vor der Art Touristen zu schützen, die dem Schicksal mit dem Reiseführer in der Hand hinterherreisen. Emona wurde auf den Überresten einer Siedlung aus der Bronzezeit errichtet, entlang eines Flusses, der heute von Jugendstil-Architektur gesäumt wird. Während der ersten Tage würden wir dort am Wohn- und Amtssitz des Bürgermeisters vorbeispazieren und an Stadthäusern aus dem siebzehnten Jahrhundert, die mit silbernen fleur-de-lys – bourbonischen Lilien – geschmückt waren, an der mächtigen goldenen Rückmauer einer großen Kaufhalle, mit Stufen bis hinunter ans Wasser und alten Türen mit Balkenriegeln. Über Jahrhunderte war hier Frachtgut gelöscht und gespeichert worden, um die Stadt zu ernähren. Und wo einst einfache Hütten sich am Ufer geduckt hatten, wuchsen heute Platanen zu einem gewaltigen Umfang an und warfen graue Borke in großen Platten in den Fluss.
    Nahe des Marktes öffnete sich der Hauptplatz der Stadt unter dem schweren Himmel. Wie ihre Schwestern weiter im Süden zeigte Emona den Schmuck einer wechselvollen Vergangenheit: Wiener Art déco entlang der Skyline, große rote Renaissancekirchen ihrer slawisch sprechenden Katholiken und bucklige braune, aus dem Mittelalter stammende Kapellen, in deren Zügen man die Britischen Inseln erkennen konnte. (Der heilige Patrick sandte Missionare in diese Gegend, die den neuen Glauben zurück zu seinen mediterranen Ursprüngen brachten, so dass die Stadt heute von sich behauptet, über eine der längsten christlichen Traditionen Europas zu verfügen.) Hier und da schien auch ein osmanisches Element über Türeingängen oder einem Fensterrahmen auf.
    Gleich neben dem Markt rief eine kleine österreichische Kirche mit ihren Glocken zur Messe, als mein Vater und ich ins Zentrum von Emona fuhren. Männer und Frauen in blauen Arbeitsmänteln strebten am Ende des sozialistischen Arbeitstages ihrem Zuhause zu, hielten Schirme über ihre Taschen und Bündel. Wir überquerten den Fluss über eine herrliche alte Brücke, die an beiden Enden von grünhäutigen Bronzedrachen bewacht wurde.
    »Dort ist die Burg«, sagte mein Vater, ging am Rand des Platzes vom Gas und deutete in den Regen hinaus. »Ich weiß, dass sie dich interessieren wird.«
    Er hatte Recht. Ich reckte mich und verdrehte den Hals, bis ich zwischen triefenden Ästen die Burg in den Blick bekam – von Motten zerfressene braune Türme auf einem steilen hohen Hügel in der Mitte der Stadt.
    »Vierzehntes Jahrhundert«, sinnierte mein Vater. »Oder dreizehntes? Ich kenne mich mit mittelalterlichen Ruinen nicht so gut aus, wenigstens nicht aufs Jahrhundert genau. Wir werden im Reiseführer nachschlagen.«
    »Können wir hinaufgehen und sie uns ansehen?«
    »Morgen nach meinen Sitzungen erkundigen wir uns. Die Türme sehen nicht so aus, als könnten sie auch nur einen Vogel sicher tragen, aber man weiß ja nie.«
    Er parkte den Wagen nahe beim Rathaus und half mir galant vom Beifahrersitz; durch den Lederhandschuh fühlte ich seine knochige Hand. »Es ist noch etwas früh, um unser Zimmer im Hotel zu beziehen. Möchtest du einen heißen Tee? Wir könnten auch in der gastronomia einen Happen essen. Der Regen wird stärker«, fügte er mit einem zweifelnden Blick auf meine Wolljacke und den Rock hinzu. Schnell zog ich den Kapuzenregenmantel hervor, den er mir im Jahr zuvor aus England mitgebracht hatte. Die

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