Der Historiker
Kirche kamen, stellte er gerade das Bild von Sveti Petko auf das Podium zurück. Die beiden anderen Ikonen waren nirgends zu sehen. Ich verbeugte mich zum Dank und sagte auf Englisch, wie wunderschön die Zeremonie gewesen sei, dabei gestikulierte ich mit den Händen und deutete nach draußen. Er schien erfreut. Dann zeigte ich durch die Kirche und hob die Brauen. ›Könnten wir jetzt den Rundgang machen?‹
›Rundgang?‹ Er runzelte kurz die Stirn, lächelte dann aber wieder. Einen Moment, er müsse sich nur umkleiden. Als er in seiner schwarzen Alltagsrobe zurückkam, führte er uns sorgfältig zu jeder Nische, deutete auf ikoni und Hristos und einige andere Dinge, die wir mehr oder weniger verstanden. Er schien sehr viel über den Ort und seine Geschichte zu wissen – wenn wir ihn nur hätten verstehen können! Endlich fragte ich ihn, wo die anderen Ikonen seien, und er deutete auf das gähnende Loch, das mir vorher schon in einer der Seitennischen aufgefallen war. Offensichtlich waren sie bereits in die Krypta zurückgebracht worden, wo sie aufbewahrt wurden. Er holte bereitwillig seine Laterne und führte uns nach unten.
Die Steinstufen waren steil, und der kalte Atem, der uns von dort unten entgegenschlug, ließ die Luft in der Kirche oben warm erscheinen. Ich griff fest nach Helens Hand, als wir der Laterne des Priesters in die Tiefe folgten, deren Lichtschein über die alten Steine um uns herum fiel. Der kleine Raum unten war allerdings nicht völlig finster; zwei Ständer mit Kerzen beleuchteten einen Altar, wobei wir nach einer Weile in der Düsternis erkannten, dass es gar kein Altar war, sondern ein kunstvoller Reliquienschrein aus Messing, der zum Teil mit reich besticktem rotem Damast bedeckt war. Auf ihm und in Silberrahmen standen die beiden Ikonen, die Jungfrau und – ich trat einen Schritt vor – der Drache und der Ritter. ›Sveti Petko‹, sagte der Priester freudig und berührte den Schrein.
Ich zeigte auf die Jungfrau, und er sagte etwas, das mit dem Bachkovski manastir zu tun hatte, aber mehr konnten wir nicht verstehen. Dann zeigte ich auf das andere Bildnis, und der Priester strahlte. ›Sveti Georgi‹, sagte er und wies auf den Ritter. Dann deutete er auf den Drachen: ›Drakula.‹
›Das heißt wahrscheinlich Drache‹, warnte mich Helen.
Ich nickte. ›Wie können wir ihn fragen, wie alt die Ikone ist?‹
›Star? Staro?‹, versuchte es Helen.
Der Priester schüttelte zustimmend den Kopf. ›Mnogo star‹, sagte er feierlich. Wir starrten ihn an. Ich hob meine Hand und zählte Finger. Drei? Vier? Fünf? Er lächelte. Fünf. Fünf Finger – etwa fünfhundert Jahre.
›Er denkt, sie stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert‹, sagte Helen. ›Gott, wie fragen wir ihn nur, woher sie ist?‹ Ich zeigte auf die Ikone, wies auf die ganze Krypta und zur Kirche über uns. Aber als er begriff, machte er nur eine allgemeine Geste des Nichtwissens und hob und senkte gleichzeitig Schultern und Augenbrauen. Er wusste es nicht. Er versuchte uns zu sagen, dass die Ikone schon seit Hunderten von Jahren hier in Sveti Petko war. Was davor gewesen war, wusste er nicht.
Schließlich drehte er sich um und lächelte, und wir wollten ihm und seiner Laterne schon die steilen Stufen hinauffolgen und hätten den Ort womöglich ohne jede Hoffnung für immer verlassen, wäre Helen nicht mit dem schmalen Absatz ihres Schuhs zwischen zwei Steinen stecken geblieben. Sie stöhnte verärgert auf. Ich wusste nicht, ob sie ein anderes Paar Schuhe dabeihatte, und bückte mich schnell, um ihr zu helfen. Der Priester war fast schon außer Sicht, aber die Kerzen vorm Reliquienschrein spendeten genug Licht, um zu erkennen, was auf dem senkrechten Teil der untersten Stufe eingraviert war, gleich neben Helens Fuß. Es war ein kleiner Drache, grob gezeichnet, aber unverwechselbar… unverwechselbar der gleiche Drache wie in meinem Buch. Ich fiel auf die Knie und fuhr mit der Hand darüber. Er war mir so vertraut, dass ich ihn selbst dort hätte eingraviert haben können. Helen kroch neben mich, der Schuh war vergessen. ›Mein Gott‹, sagte sie. ›Was ist das hier für ein Ort?‹
›Sveti Georgi‹, sagte ich langsam. ›Es muss Sveti Georgi sein.‹
Sie sah mich in der Düsternis an, das Haar fiel ihr vor die Augen. ›Aber die Kirche ist aus dem achtzehnten Jahrhundert‹, wandte sie ein. Dann klärte sich ihr Ausdruck. ›Du meinst…‹
›Etliche Kirchen wurden auf alten Fundamenten erbaut. Und wir
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