Der Historiker
wissen, dass die hier neu errichtet wurde, nachdem die Türken ihre Vorgängerin niedergebrannt hatten. Kann es nicht eine Klosterkirche gewesen sein? Die Kirche eines Klosters, das alle vor langer Zeit vergessen haben?‹ Ich flüsterte aufgeregt. ›Jahrzehnte oder Jahrhunderte später kann sie wieder aufgebaut und nach dem Märtyrer benannt worden sein, an den sie sich noch erinnerten.‹
Helen drehte sich entsetzt um und starrte auf den Messingschrein hinter uns. ›Glaubst du auch…?‹
›Ich weiß nicht‹, sagte ich langsam. ›Es scheint mir unwahrscheinlich, dass sie die Reliquien miteinander vertauscht haben, aber wie lange, glaubst du, ist es her, dass der Schrein geöffnet wurde?‹
›Er sieht mir nicht groß genug aus‹, sagte sie. Mehr brachte sie nicht heraus.
›Du hast Recht‹, stimmte ich ihr zu. ›Aber wir müssen es versuchen. Ich muss es versuchen, und ich möchte, dass du es mich allein machen lässt, Helen.‹
Sie sah mich fragend an, als verblüffte sie der Gedanke, dass ich auch nur versuchte, sie wegzuschicken. ›Es ist eine sehr ernste Sache, in eine Kirche einzubrechen und ein Grab zu entweihen.‹
›Ich weiß‹ sagte ich. ›Aber was, wenn es gar nicht das Grab eines Heiligen ist?‹
Es gab zwei Namen, die wir beide dort unten in der düsteren Kälte mit den flackernden Kerzen und dem Geruch von Bienenwachs und Erde nicht auszusprechen vermochten. Einer davon war Rossis.
›Jetzt gleich? Ranov wird nach uns suchen‹, bemerkte Helen.
Als wir aus der Kirche traten, wurden die Schatten der Baume bereits länger, und Ranov suchte uns tatsächlich mit ungeduldigem Blick. Bruder Ivan stand bei ihm, wenn mir auch aufgefallen war, dass sie kaum miteinander sprachen. ›Haben Sie ein kleines Schläfchen gemacht?‹, fragte Helen freundlich.
›Es wird Zeit, dass wir zurück nach Bachkovo fahren.‹ Ranov klang wieder gewohnt brüsk. War er enttäuscht, dass wir offenbar nichts gefunden hatten? ›Wir fahren morgen früh zurück nach Sofia. Ich habe dort zu tun. Ich hoffe, Sie sind mit den Ergebnissen Ihrer Reise zufrieden.‹
›Fast‹, sagte ich. ›Ich würde aber gern noch einmal Baba Yanka besuchen und ihr für ihre Hilfe danken.‹
›Wie Sie meinen.‹ Ranov sah verärgert aus, aber er führte uns zurück ins Dorf, und Bruder Ivan ging schweigend hinter uns her. Im goldenen Abendlicht lag die Straße ruhig da, und von überall her drangen Essensgerüche zu uns. Ich sah einen alten Mann, der zur Dorfpumpe ging und einen Eimer füllte. Am anderen Ende von Baba Yankas kleiner Straße wurden gerade Ziegen und Schafe ins Dorf getrieben. Wir konnten ihr Klagen hören und sehen, wie sie sich zusammendrängten, bis ein Junge kam und sie um eine Ecke scheuchte.
Baba Yanka freute sich, uns zu sehen. Wir gratulierten ihr, durch Ranov, zu ihrem wundervollen Gesang und dem Feuertanz. Bruder Ivan segnete sie mit einer schweigsamen Geste. ›Wie kommt es, dass Sie sich nicht verbrennen?‹, fragte Helen.
›Oh, das liegt in Gottes Macht‹, antwortete Baba Yanka sanft. ›Ich weiß hinterher nie, wie es ging. Manchmal fühlen sich meine Füße danach heiß an, aber ich verbrenne sie mir nie. Es ist der schönste Tag des Jahres für mich, selbst wenn ich mich nicht an viel erinnere. Monate danach noch fühle ich mich friedlich wie ein See.‹
Sie nahm eine Flasche ohne Etikett aus dem Schrank und schenkte uns ein Glas braunen Likör ein. In der Flasche schwammen lange Gräser – Kräuter, wie Ranov erklärte, für den Geschmack. Bruder Ivan lehnte ab, aber Ranov nahm ein Glas. Nach ein paar Schluck begann er Bruder Ivan mit einer Stimme zu befragen, die so freundlich klang wie Brennnesseln. Bald schon waren sie tief in einer Debatte, der wir nicht folgen konnten, obwohl ich immer wieder das Wort ›politicheski‹ heraushörte.
Als wir eine Weile so dagesessen hatten, unterbrach ich Ranov einen Moment, um mir dabei zu helfen, Baba Yanka zu fragen, ob ich ihre Toilette benutzen dürfe. Er lachte unangenehm und war zweifellos wieder ganz der Alte, dachte ich. ›Ich fürchte, das ist hier nicht so schön‹, sagte er. Baba Yanka lachte auch und deutete auf die Hintertür. Helen sagte, sie wolle mitgehen und warten, bis ich so weit sei. Das Toilettenhäuschen in Baba Yankas Garten war noch heruntergekommener als ihre Hütte, aber breit genug, um unsere Flucht durch Bäume, Bienenstöcke und das Hintertor zu verdecken. Es war niemand zu sehen, dennoch schlenderten wir die Straße
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