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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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zusammengepressten Zähnen heraus und gemeinsam gelang es uns irgendwie, das Behältnis sicher auf den Boden zu verfrachten. So bekam ich vielleicht Haspen und Scharniere oben auf dem Deckel besser in den Blick, dachte ich, oder konnte mich besser abstützen, um den Schrein aufzustemmen.
    Ich wollte gerade einen erneuten Versuch unternehmen, als Helen einen leisen Schrei ausstieß. ›Paul, schau mal!‹ Ich fuhr herum und sah, dass der staubige Marmor, auf dem der Schrein gestanden hatte, kein massiver Block war. Bei unseren Versuchen, den Schrein auf den Boden zu stellen, war die Deckplatte leicht verrutscht. Ich glaube, ich atmete nicht mehr. Gemeinsam und ohne ein Wort gelang es uns, die Marmorplatte herunterzuheben. Sie war nicht dick, wog aber eine Unmenge, und wir keuchten schwer, als wir sie schließlich gegen die Wand lehnten. Unter der Marmorplatte war eine weitere Platte, von derselben Art Stein wie Boden und Wände, ungefähr so lang wie ein Mann groß. Das Porträt darauf war äußerst grob, direkt in die harte Oberfläche gemeißelt – nicht das Gesicht eines Heiligen, sondern das eines wirklichen Mannes, ein hartes Gesicht mit stierenden, mandelförmigen Augen, einer langen Nase und einem großen Schnurrbart. Es war ein unbarmherziges Gesicht, auf dem ein dreieckiger Hut saß, der trotz seiner nur groben Umrisse seltsam keck wirkte.
    Helen wich zurück, weißlippig im Kerzenlicht, und ich kämpfte mit dem Drang, sie beim Arm zu nehmen und mit ihr die Treppe hinaufzulaufen. ›Helen‹, sagte ich sanft, sonst gab es nichts zu sagen. Ich nahm den Dolch, und Helen langte in einen Teil ihrer Kleidung – ohne dass ich gesehen hätte, wohin – und zog die winzige Pistole heraus, die sie nur eine Armeslänge entfernt ablegte, gleich bei der Wand. Dann fassten wir unter den Rand der Steinplatte und hoben sie an. Der Stein glitt halb zur Seite, eine erstaunliche Konstruktion. Wir zitterten jetzt beide sichtbar, so dass uns der Stein fast aus den Händen rutschte. Als der Sarkophag offen war, sahen wir auf den Körper hinunter, der darin lag – die schweren geschlossenen Lider, die bleiche Haut, die unnatürlich roten Lippen –, sahen, wie der flache, geräuschlose Atem die Brust hob und senkte. Es war Professor Rossi.«

 
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    Ich wünschte, ich könnte sagen, etwas Tapferes oder Nützliches getan und Helen in die Arme genommen zu haben, um sicherzugehen, dass sie nicht ohnmächtig wurde, aber nein. Es gibt fast nichts Schlimmeres, als ein geliebtes Gesicht vom Tod, körperlichem Verfall oder einer schrecklichen Krankheit gezeichnet zu sehen. Solch ein Gesicht, das den Anblick der geliebten Seele unerträglich werden lässt, ist das grausigste Ungeheuer. ›Oh, Rossi‹, sagte ich, und die Tränen schossen mir so plötzlich über die Wangen, dass ich sie nicht einmal kommen fühlte.
    Helen trat näher und sah ihn an. Er trug immer noch die Kleider von jenem Abend vor fast einem Monat, als ich zuletzt mit ihm gesprochen hatte. Sie waren zerrissen und schmutzig, als hätte er einen Unfall gehabt. Seine Krawatte war verschwunden. Ein Rinnsal Blut wand sich durch die Falten auf einer Seite seines Halses und bildete einen scharlachroten Nebenarm auf dem verschmutzten Kragen. Der Mund, durch den der schwache Atem drang, war schlaff und ohne Kraft, und bis auf das leichte Auf und Ab seines Hemdes war der Körper völlig leblos. Helen streckte die Hand aus. ›Berühr ihn nicht!‹, sagte ich scharf, was meinen eigenen Schrecken nur noch vergrößerte.
    Aber Helen schien sich so sehr wie er in einer Art Trance zu befinden, und eine Sekunde später strich sie ihm über die Wange. Ihre Lippen zuckten. Ich weiß nicht, ob es alles noch schlimmer machte, dass er die Augen öffnete, aber er tat es. Sie waren immer noch sehr blau, selbst in diesem düsteren Kerzenlicht, aber das Weiß unter den geschwollenen Lidern war blutunterlaufen. Diese Augen waren schrecklich lebendig und verwirrt, und sie bewegten sich hierhin und dorthin, als versuchten sie, unsere Gesichter zu erfassen, während der Rest des Körpers leichenstill blieb. Dann schien sich sein Blick auf Helen zu sammeln, die sich über ihn beugte, und mit unglaublicher Kraft klärte sich das Blau seiner Augen, öffnete sich, als nehme er sie ganz in sich auf. ›Oh, meine Liebe‹, sagte er sehr sanft. Seine Lippen waren aufgesprungen und dick, aber die Stimme war die Stimme, die ich so liebte, mit ihrem trockenen Akzent.
    ›Nein… meine

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