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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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nicht sehr groß war, aber ihre Proportionen schienen eine Stein gewordene Melodie. Nie hatte ich etwas vergleichbares Romanisches gesehen, so traulich und schön. Laut unserem Reiseführer war die rund gebaute Apsis die erste Äußerung des Romanischen, eine plötzliche Geste, die Licht über den Altar fallen ließ. In den schmalen Fenstern war noch Glas aus dem vierzehnten Jahrhundert, und der Altar war in Rot und Weiß für eine Messe vorbereitet, auf ihm goldene Kerzenleuchter. Leise gingen wir wieder hinaus.
    Schließlich sagte der junge Mönch, der uns herumführte, nun hätten wir alles bis auf die Krypta gesehen, und wir folgten ihm auch noch dort hinunter. Es war ein kleines feuchtes Loch, das vom Kreuzgang abging, architektonisch durch sein frühes romanisches Gewölbe interessant, das von ein paar gedrungenen Säulen gehalten wurde, sowie wegen eines düster geschmückten Steinsarkophags, der noch aus dem ersten Jahrhundert des Klosters stammte – die letzte Ruhestätte des ersten Abtes, wie in unserem Reiseführer stand. Neben dem Sarkophag saß ein alter Mönch, der in Gebet und Betrachtung versunken schien. Als wir hereinkamen, blickte er auf, freundlich und verwirrt, und verbeugte sich, ohne von seinem Stuhl aufzustehen. ›Wir haben seit Jahrhunderten hier die Tradition, dass einer von uns beim Abt sitzt‹, erklärte uns unser Begleiter. ›Gewöhnlich ist es ein älterer Mönch, dem diese Ehre ein Leben lang versprochen ist.‹
    ›Wie ungewöhnlich‹, sagte ich, aber etwas an diesem Ort, vielleicht die Kälte, ließ dich protestieren und an Helens Brust herumstrampeln. Da ich sah, wie müde Helen war, bot ich ihr an, mit dir hinauf an die frische Luft zu gehen. Ich war selbst erleichtert, als ich aus dem feuchten Loch wieder herauskam, und ging und zeigte dir den Brunnen.
    Ich hatte gedacht, Helen würde mir gleich nachkommen, aber sie blieb noch dort unten, und als sie endlich heraufkam, war ihr Gesicht so verändert, dass ich alarmiert war. Sie sah angeregt aus, ja, lebendiger als seit Monaten, aber auch blass und weitäugig, wie mit etwas beschäftigt, das ich nicht sehen konnte. Ich trat so beiläufig zu ihr, wie ich konnte, und fragte sie, ob es dort unten noch etwas Interessantes gegeben habe. ›Vielleicht‹, sagte sie, aber sie schien mich nicht wirklich hören zu können, weil die Gedanken in ihrem Kopf sie offenbar zu sehr in Anspruch nahmen. Und dann wandte sie sich dir zu, ganz plötzlich, nahm dich aus meinem Arm, drückte dich und küsste dir Kopf und Wangen. ›Ist sie in Ordnung? Hatte sie Angst?‹
    ›Es geht ihr gut‹, sagte ich, ›vielleicht hat sie etwas Hunger.‹
    Helen setzte sich auf eine Bank, fischte ein Gläschen für dich hervor und begann dich zu füttern, wobei sie eines jener kleinen ungarischen oder rumänischen Lieder für dich sang, die ich nicht verstand. ›Das hier ist ein schöner Ort‹, sagte sie nach einer Minute. ›Lass uns ein paar Tage bleiben.‹
    ›Aber wir müssen Donnerstagabend zurück in Paris sein‹, wandte ich ein.
    ›Nun, es ist kein großer Unterschied, ob wir wenigstens die Nacht über hier bleiben oder in Les Bains‹, sagte sie ruhig. ›Wir können genauso gut morgen zurückgehen und gleich den Bus nehmen, wenn du denkst, dass wir so bald schon fahren müssen.‹
    Ich stimmte ihr zu, weil sie mir so seltsam vorkam, spürte aber eine Art inneren Widerstand dagegen, selbst noch, als ich den jungen Mönch, der uns führte, fragte, ob Platz in der Herberge sei, wir würden hier gern übernachten. Er sprach bei seinem Oberen vor, der sagte, die Herberge sei leer und wir somit willkommen. Zwischen einem einfachen Mittagessen und einem noch einfacheren Abendbrot, das wir in einem Raum neben der Küche einnahmen, wanderten wir durch den Rosengarten und auch den steilen Obstgarten außerhalb der Mauern. Später saßen wir hinten in der Kirche und hörten den Mönchen beim Singen der Messe zu, während du auf Helens Schoß ein Schläfchen machtest. Ein Mönch bezog uns unsere Pritschen mit sauberer rauer Bettwäsche. Wir rückten sie zusammen und nahmen deine Pritsche in die Mitte, damit du nicht herunterfallen konntest. Nachdem du eingeschlafen warst, lag ich lesend da und tat so, als beachtete ich Helen nicht. Sie saß in ihrem schwarzen Baumwollkleid auf dem Rand ihres Betts und sah in Richtung Nacht. Ich war froh, dass die Vorhänge zugezogen waren, aber schließlich stand sie auf, hob den Stoff an und sah hinaus. ›Da draußen muss es

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