Der Historiker
über unser gemeinsames Leben berichten kann. Während ihrer Schwangerschaft hatte sie ihre Stelle aufgegeben und schien jetzt damit zufrieden, stundenlang mit deinen kleinen Fingern und Füßchen zu spielen, die, wie sie mit einem durchtriebenen Lächeln sagte, ganz und gar transsilvanisch seien, oder sie wiegte dich in dem großen Schaukelstuhl, den ich ihr gekauft hatte. Mitunter kam ich früher aus der Universität nach Hause, um mich zu vergewissern, dass ihr zwei – meine beiden dunkelhaarigen Frauen – immer noch schlafend zusammen auf dem Sofa lagt.
Als ich eines Tages schon um vier Uhr nach Hause kam, kleine Schachteln mit chinesischem Essen dabei, dazu ein paar Blumen zum Bewundern für dich, war niemand im Wohnzimmer, und ich fand Helen in deinem Zimmer, über dein Bettchen gebeugt, deinen Schlaf bewachend. Dein Gesicht war engelsgleich ruhig, wie immer, wenn du schliefst. Helens dagegen war tränenüberströmt, und im ersten Augenblick schien sie gar nicht zu merken, dass ich hereingekommen war. Ich nahm sie in die Arme und spürte mit einem Schauder, dass etwas in ihr nur langsam in meine Umarmung zurückfand. Sie wollte mir nicht sagen, was sie beunruhigt hatte, und nach einem flüchtigen Hin und Her wollte ich sie nicht weiter drängen. Später dann war sie ausgelassen wegen des mitgebrachten Essens und der Nelken, aber schon in der Woche darauf fand ich sie wieder in Tränen, still, während sie durch eines von Rossis Büchern sah, die er für mich signiert hatte, als wir miteinander zu arbeiten begannen. Es war ein dickes Werk über die minoische Kultur, und es lag auf ihrem Schoß, geöffnet auf einer Seite mit einem von Rossis selbst geschossenen Fotos eines Opferaltars auf Kreta. ›Wo ist unsere Kleine?‹, fragte ich.
Sie hob den Kopf und starrte mich an, als müsste sie sich zunächst einmal ins Gedächtnis rufen, welches Jahr wir hatten. ›Sie schläft.‹
Es war seltsam. Ich widerstand dem Verlangen, in dein Zimmer zu laufen und nach dir zu sehen. ›Liebling, was ist?‹ Ich legte das Buch zur Seite und nahm Helen in den Arm, aber sie schüttelte nur den Kopf und schwieg. Als ich endlich zu dir hineinging, wachtest du gerade auf, drehtest dich auf den Bauch und hobst das Köpfchen, um mich mit deinem allerliebsten Lächeln anzusehen.
Bald schon war Helen jeden Morgen schweigsam, und abends weinte sie ohne sichtlichen Grund. Da sie mit mir nicht sprechen wollte, bestand ich darauf, dass sie einen Arzt aufsuchte und schließlich einen Psychoanalytiker. Der Arzt sagte, er könne nichts finden und dass Frauen in den ersten Monaten der Mutterschaft oft trübsinnig seien. Sie käme schon wieder auf die Beine, wenn sie sich erst daran gewöhnt hätte. Viel zu spät entdeckte ich, und zwar als ein Freund von uns Helen zufällig in der New Yorker Public Library traf, dass sie nie bei dem Psychoanalytiker gewesen war. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie, sie habe entschieden, dass ihr etwas Forschungsarbeit mehr helfen werde, und so habe sie die Zeit, die der Babysitter da war, stattdessen dafür genutzt. Aber ihre Stimmung war an manchen Abenden so schlecht, dass ich zu dem Schluss kam, sie bräuchte unbedingt einen Tapetenwechsel. Ich hob etwas Geld von unserem Konto ab und kaufte für den Frühling Flugtickets nach Frankreich.
Helen war nie in Frankreich gewesen, obwohl sie ihr ganzes Leben darüber gelesen hatte und ein ausgezeichnetes Schulfranzösisch sprach. Gut gelaunt sah sie zum Montmartre hinauf und sagte so trocken wie früher, dass Sacré-Cœur ja noch unglaublich viel hässlicher sei, als sie je gedacht habe. Es gefiel ihr, deinen Kinderwagen über die Blumenmärkte und an der Seine entlang zu schieben, wo wir das Bücherangebot der Bouquinisten durchstöberten, während du unter deiner weichen roten Mütze auf das Wasser hinaussahst. Schon mit neun Monaten warst du eine ausgezeichnete Reisende, und Helen erklärte dir, das sei erst der Anfang.
Die Concierge in unserer Pension war, wie sich herausstellte, mehrfache Großmutter, und wir ließen dich in ihrer Obhut dein Schläfchen machen, während wir uns an einer Bar mit Messinghandlauf zuprosteten oder auf einem der Boulevards in Handschuhen unseren Kaffee tranken. Helen – und auch du mit deinen hellen Augen – mochte vor allem die hallenden Gewölbe von Notre Dame, und so zogen wir nach einer Weile noch ein Stück weiter südlich, um andere hallende Schönheiten zu besichtigen: Chartres mit seinen leuchtenden Fenstern,
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