Der Historiker
zu versinnbildlichen.‹
›Und deshalb sitzt immer jemand Wache bei ihm?‹, fragte ich außer mir.
Der Abt zuckte mit den Schultern. ›Das ist unsere Tradition, um sein Angedenken zu ehren.‹
Ich wandte mich wieder an den alten Mönch und erstickte das Bedürfnis, ihn zu würgen und dieses sanfte Gesicht sich blau färben zu sehen. ›Ist das die Geschichte, die Sie meiner Frau erzählt haben?‹
›Sie fragte mich nach unserer Geschichte, Monsieur. Ich konnte nichts Falsches darin erkennen, ihre Fragen zu beantworten.‹
›Und was hat sie Ihnen darauf gesagt?‹
Er lächelte. ›Sie dankte mir mit ihrer süßen Stimme und fragte mich nach meinem Namen, und ich sagte ihn ihr: Bruder Kyrill.‹ Er verschränkte die Hände vor seinem Bauch.
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er gesagt hatte, der Name klang nicht gleich vertraut, weil er ihn französisch auf der zweiten Silbe betont und das unschuldige ›Bruder‹ davor gesetzt hatte. Ich schloss meine Arme fester um dich, damit ich dich nicht fallen ließ. ›Sagten Sie, Ihr Name ist Kyrill? Haben Sie das gesagt? Buchstabieren Sie ihn mir bitte.‹
Der erstaunte Mönch gehorchte.
›Woher kommt dieser Name?‹, fragte ich. Ich konnte es nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte. ›Ist das Ihr wirklicher Name? Wer sind Sie?‹
Der Abt mischte sich ein, vielleicht weil der alte Mann ernsthaft verwirrt wirkte. ›Es ist nicht sein Taufname‹, erklärte er. ›Wir alle nehmen Namen an, wenn wir unser Gelübde ablegen. Es hat hier immer einen Kyrill gegeben, einer trägt immer diesen Namen… Und einen Bruder Michel, der dort – ‹
›Wollen Sie damit sagen‹, fragte ich und hielt dich fest umschlungen, ›dass es vor diesem Bruder Kyrill schon einen anderen gegeben hat, und davor ebenfalls?‹
›Oh ja‹, sagte der Abt und war eindeutig verblüfft, dass ich so intensiv nachfragte. ›Solange wir zurückdenken können. Wir sind stolz auf unsere Traditionen, wir mögen die neuen Dinge nicht so.‹
›Und woher kommt diese Tradition?‹ Ich schrie jetzt schon beinahe.
›Das wissen wir nicht, Monsieur‹, sagte der Abt geduldig. ›Es war einfach immer so hier.‹
Ich trat dicht an ihn heran und berührte mit meiner Nase fast die seine. ›Ich möchte, dass Sie den Sarkophag in der Krypta öffnen‹, sagte ich.
Er trat entgeistert einen Schritt zurück. ›Was sagen Sie da? Das können wir nicht.‹
›Kommen Sie mit mir. Hier…‹ Ich gab dich schnell dem jungen Mönch, der uns am Tag zuvor herumgeführt hatte. ›Bitte, halten Sie meine Tochter.‹ Er nahm dich längst nicht so unbeholfen auf den Arm, wie man hätte denken können. Du fingst an zu weinen. ›Kommen Sie‹, sagte ich zum Abt. Ich zog ihn zur Krypta und machte eine Geste zu den anderen Mönchen, dass sie zurückbleiben sollten. Wir gingen schnell die Stufen hinunter. Unten in der kalten Krypta, wo Bruder Kyrill zwei Kerzen hatte brennen lassen, wandte ich mich dem Abt zu. ›Sie brauchen niemandem davon zu erzählen, aber ich muss in den Sarkophag sehen.‹ Ich machte eine Pause, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. ›Wenn Sie mir nicht helfen, werde ich die ganze Kraft des Gesetzes auf dieses Kloster herunterbeschwören.‹
Er warf mir einen Blick zu – Angst? Ärger? Mitleid? – und trat ohne ein Wort an ein Ende des Sarkophags. Zusammen schoben wir die schwere Deckplatte zur Seite, gerade weit genug, um hineinsehen zu können. Ich hielt eine der Kerzen hoch. Der Sarkophag war leer. Die Augen des Abts wurden riesig, und er schob den Deckel mit einem mächtigen Stoß wieder zu. Wir sahen einander an. Er hatte ein feines, kluges gallisches Gesicht, das ich in einer anderen Situation sicher sehr gemocht hätte. ›Bitte sagen Sie den Brüdern nichts davon‹, sagte er mit leiser Stimme, und damit wandte er sich ab und ging aus der Krypta.
Ich folgte ihm und versuchte zu entscheiden, was ich als Nächstes tun sollte. Ich würde dich nehmen und zurück nach Les Bains gehen. Dort wollte ich mich versichern, dass die Polizei tatsächlich alarmiert war. Vielleicht hatte sich Helen entschieden, schon vor uns zurück nach Paris zu fahren – warum, konnte ich mir allerdings nicht vorstellen. Oder sogar schon nach Hause zu fliegen. Ich spürte ein fürchterliches Dröhnen in meinen Ohren, das Herz schlug mir bis zum Hals, Blut stieg mir in den Mund.
Als ich wieder in den Kreuzgang trat, schien die Sonne auf den Brunnen, und die Vögel sangen und das alte Pflaster
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