Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
Schmerz oder eine Schwäche unmöglich, sich gerade zu halten. Als hätte er seine Lebenskraft verloren.
    Ich versuchte mir einzureden, dass ich ihn bei meinem ersten Besuch nur in aller Eile gesehen hätte und mich meine Bekanntschaft mit dem Briefschreiber dieses Mal besser hinsehen und meine Beobachtungen stärker beachten lasse. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, während kurzer Zeit Zeuge seines Verfalls geworden zu sein. Ich überlegte, dass er unter einer unglücklichen, degenerativen Krankheit leiden müsse, einem schnell fortschreitenden Krebs zum Beispiel. Natürlich verbat mir die Höflichkeit jede Bemerkung über sein Aussehen.
    »Nun, Dr. Rossi«, sagte er mit seinem amerikanischen Akzent, »ich glaube nicht, dass Ihnen bewusst ist, was für einen wertvollen kleinen Band Sie da haben. «
    »Wertvoll?« Den persönlichen Wert, den das Buch für mich hatte, konnte er unmöglich kennen, dachte ich, auch nicht mit Hilfe aller chemischen Analysen dieser Welt. Das Buch war der Schlüssel zu meiner Rache.
    »Ja. Es ist ein seltenes Beispiel mittelalterlicher zentraleuropäischer Druckkunst, ein sehr interessantes und ungewöhnliches Buch, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es um 1512 herum in Buda, in Ungarn, oder vielleicht in der Walachei gedruckt wurde. 1512 hieße klar nach Corvinus’ heiligem Lukas, aber vor dem ungarischen Neuen Testament von 1520, das auf so ein Werk wahrscheinlich Einfluss ausgeübt hätte.« Er rückte sich auf seinem knarzenden Stuhl zurecht. »Es ist sogar möglich, dass der Holzschnitt in Ihrem Buch seinerseits von Einfluss für das Neue Testament von 1520 war, in dem es eine ähnliche Illustration gibt, einen geflügelten Satan. Aber das lässt sich nicht beweisen. Das wäre eine komische Sache, oder? Ich meine, einen Teil der Bibel mit Dingen illustriert zu sehen wie diesem diabolischen Holzschnitt.«
    »Diabolisch?« Ich genoss den Klang der Verdammnis aus dem Mund eines anderen.
    »Sicher. Sie haben mir von der Dracula-Legende erzählt, aber denken Sie, dabei hätte ich es bewenden lassen?«
    Mr Martins Tonfall war so amerikanisch, dass ich einen Moment brauchte, um zu reagieren. Nie zuvor hatte ich diese unheilvolle Tiefe in einer so vollkommen normalen Stimme vernommen. Ich starrte ihn verwirrt an, aber der Ton war verklungen und sein Gesicht weich. Er blätterte einen Stapel Papiere durch, die er aus einem Ordner geholt hatte.
    »Hier sind die Ergebnisse Ihres Tests«, sagte er. »Ich habe Ihnen saubere Kopien gemacht und meinen Kommentar dazugelegt. Ich denke, es wird interessant für Sie sein. Wobei die Tests nicht viel mehr besagen als das, was ich Ihnen gerade erläutert habe – oh, es gibt da noch zwei weitere interessante Dinge. Die chemische Analyse deutet darauf hin, dass das Buch wahrscheinlich lange Zeit an einem Platz aufbewahrt wurde, an dem es viel Steinstaub gab, und das wahrscheinlich vor 1700. Der Rücken ist zudem mit Salzwasser in Berührung gekommen, vielleicht von einer Reise übers Meer. Es könnte das Schwarze Meer gewesen sein, wenn unsere Annahme, was den Herkunftsort betrifft, richtig ist, aber natürlich gibt es da viele andere Möglichkeiten. Ich fürchte, wir haben Sie bei Ihren Nachforschungen nicht weiterbringen können. Sagten Sie, Sie schreiben an einer Geschichte des mittelalterlichen Europas?«
    Er sah auf und schenkte mir ein beiläufiges, gutmütiges Lächeln, das in diesem mitgenommenen Gesicht sonderbar wirkte, und dann fielen mir gleichzeitig zwei Dinge auf, die mir das Mark in den Knochen gefrieren ließen.
    Das Erste war, dass ich ihm nie erzählt hatte, eine Geschichte des mittelalterlichen Europas schreiben zu wollen. Ich hatte erklärt, ich müsse mehr über den Band herausfinden, um meine Bibliografie zu Vlad dem Pfähler, besser bekannt als Dracula, zu vervollständigen. Howard Martin war als Kurator so genau wie ich als Historiker, und er würde wissentlich niemals so einen Fehler machen. Sein Gedächtnis war mir bis jetzt als fast fotografisch erschienen, was die Kapazität für Details betraf; wenn ich auf dergleichen treffe, weiß ich es immer von Herzen zu schätzen.
    Das Zweite, was mir in diesem Moment auffiel, hatte wohl mit seiner Krankheit zu tun. Der arme Mann, sagte ich mir innerlich. Seine Lippen wirkten verwest und eingefallen, wenn er lächelte, und seine oberen Eckzähne wurden sichtbar und standen auf eine Weise vor, durch die sein Gesicht einen wirklich unangenehmen Ausdruck bekam. Er erinnerte mich

Weitere Kostenlose Bücher