Der Hobbit
ihm seine nassen, zerlumpten Kleider kalt und klebrig am Leibe hingen.
Von seinen Erlebnissen in dieser Nacht muss ich nicht viel berichten, denn wir nähern uns dem Ende seiner Reise nach Osten und kommen allmählich zu seinem letzten und größten Abenteuer; darum ist nun Eile geboten. Natürlich kam er mit Hilfe des Zauberrings anfangs gut zurecht, aber bald verrieten ihn seine nassen Fußstapfen und die Tropfenspuren, die überall zurückblieben, wo er hinging oder sich hinsetzte; außerdem begann ihm die Nase zu laufen, und bei den gewaltigen Explosionen seines bis zum letzten Moment unterdrückten Niesens war er in keinem Versteck sicher. Bald war das ganze Dorf am Flussufer in heller Aufregung;doch Bilbo flüchtete in den Wald, unter Mitnahme eines Brotlaibs, einer Lederflasche mit Wein und einer Pastete, die er allesamt nicht bezahlt hatte. Den Rest der Nacht musste er nass, wie er war, und ohne Feuer zubringen, aber die Flasche half ihm darüber hinweg, und auf einem Haufen trockener Blätter konnte er sogar ein Auge zutun, obwohl das Jahr schon weit fortgeschritten und die Luft kalt war.
An einem besonders lauten Niesen wachte er auf. Der Morgen graute schon, und am Ufer herrschte reger Betrieb. Ein Floß aus Fässern wurde gebaut, und die Floßelben würden es dann flussabwärts bis zur Seestadt steuern. Bilbo musste schon wieder niesen. Nass war er nun nicht mehr, aber er fror am ganzen Leib. Er kletterte die Böschung herab, so schnell seine steifen Beine es erlaubten, und kam gerade noch rechtzeitig auf das Fässerfloß, ohne dass ihn in dem lebhaften Hin und Her jemand bemerkte. Zum Glück schien die Sonne noch nicht, so dass sein Schatten ihn nicht in Verlegenheit brachte, und auch das Niesen blieb ihm eine ganze Weile erspart.
Es wurde mächtig mit Stangen gestakt. Die Elben, die im flachen Wasser standen, drückten und schoben das Floß an. Die zusammengebundenen Fässer scheuerten knarrend aneinander.
»Das ist aber eine schwere Ladung!«, murrten einige. »Die liegen zu tief – manche können nie und nimmer leer sein. Wären sie bei Tage angelandet, hätten wir mal hineinschauen können.«
»Keine Zeit jetzt!«, rief der Flößer. »Stoßt ab!«
Und dann trieben sie weiter, zuerst langsam, bis sie das Felskap passiert hatten, auf dem andere Elben standen, die sie mit Stangen abstießen, dann schneller und schneller, alsdie Hauptströmung sie erfasste und sie immer weiter flussabwärts zum See hin trug.
Den Kerkern des Elbenkönigs waren sie entkommen, und den Wald hatten sie hinter sich, ob aber tot oder lebendig, werden wir erst noch sehen.
KAPITEL X
EIN BEGEISTERTER EMPFANG
D er Tag wurde heller und wärmer, während sie dahintrieben. Nach einer Weile bog der Fluss um eine steile Landschulter herum, die sich von links hereindrängte. Unter ihrem felsigen Fuß, der wie eine Klippe in die Strömung hineinragte, floss das Wasser strudelnd und schäumend in einer tiefen Rinne hindurch. Plötzlich trat die Klippe zurück. Die Ufer wurden flach. Die Bäume verschwanden, und Bilbo hatte den Blick frei in die Ferne.
Weit lag das Land vor ihm ausgebreitet, durchströmt von den Wassern des Flusses, die sich hier aufteilten und in hundert Armen weiterschlängelten oder in den Sümpfen und Teichen zum Halt kamen, die auf allen Seiten mit kleinen Inseln gespickt waren; doch immer noch floss ein starker Wasserlauf stetig fort durch die Mitte. Und in der Ferne ragte der Berg auf, das dunkle Haupt von Wolkenfetzen umhangen. Die nächstbenachbarten Gipfel im Nordosten und das wellige Land dazwischen waren nicht zu sehen. Ganz allein stand er dort und blickte über die Sümpfe zum Wald hinüber. Der Einsame Berg! Bilbo war von weit her gekommen und hatte viele Abenteuer bestanden, um ihn zu sehen, und nun gefiel sein Anblick ihm gar nicht.
Als er den Gesprächen der Flößer zuhörte und sich aus dem, was er dabei bröckchenweise erfuhr, ein Bild machte, begriff er bald, dass er heilfroh sein konnte, ihn überhaupt je erblickt zu haben, und sei es auch nur von fern. So öde seine Gefangenschaft in den Elbenhöhlen auch gewesen und so bedenklich seine jetzige Lage war (um von der Lage der Zwerge unter seinen Füßen ganz zu schweigen), hatte er doch mehr Glück gehabt, als er ahnte. In den Gesprächen ging es um die Handelsschifffahrt auf den Wasserstraßen und den zunehmenden Verkehr auf dem Fluss, um das Verschwinden oder den Verfall der Straßen, die von Osten her zum Düsterwald
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