Der Hobbit
Gewässer befahren, manche mit Gold beladen, manche mit Kriegern in voller Rüstung,und die Kriege und Heldentaten dieser Zeit waren nun nur noch Legende. Die verfaulten Pfähle der einstmals größeren Stadt waren noch entlang des Ufers zu sehen, wenn das Wasser bei Trockenheit fiel.
Aber an all dies erinnerten die Menschen sich kaum mehr, obwohl manche noch die alten Lieder von den Zwergenkönigen unter dem Berge sangen, von Thror und Thrain aus Durins Volk, von der Ankunft des Drachen und dem Untergang der Fürsten von Thal. In manchen Liedern hieß es auch, dass Thror und Thrain eines Tages wiederkehren, dass dann das Gold in Strömen aus dem Bergtor fließen und dass das ganze Land von neuem sich mit Gesang und Gelächter erfüllen werde. Aber auf die Alltagsgeschäfte der Menschen in der Stadt hatte diese schöne Legende wenig Einfluss.
Sobald das Fässerfloß in Sicht kam, stießen Boote von den Anlegestellen in der Stadt ab, und laute Zurufe begrüßten die Flößer. Taue wurden ausgeworfen und Ruder betätigt, und bald darauf wurde das Floß aus der Strömung des Waldflusses geschleppt und um die felsige Landzunge in die kleine Bucht bei der Seestadt gezogen. Nicht weit vom Kopf der großen Brücke wurde es am Ufer vertäut. Bald würden Menschen aus dem Süden kommen und manche der Fässer wieder mitnehmen, andere mit den Waren füllen, die sie herangeschafft hatten, damit sie flussaufwärts zu den Waldelben weiterbefördert würden. Einstweilen ließ man die Fässer am Ufer liegen, weil die Elben, die das Floß gesteuert hatten, zusammen mit den Männern aus den Booten in die Stadt gingen, um zu feiern.
Sie wären nicht wenig erstaunt gewesen, hätten sie gesehen, was am Ufer geschah, nachdem sie fort waren und die Schatten der Nacht sich herabgesenkt hatten. Zuerst einmal wurde eines der Fässer von Bilbo losgeschnitten, an den Strand gerollt und geöffnet. Ein Stöhnen war zu hören, und herausgekrochen kam ein Zwerg in elender Verfassung. Nasses Stroh hing in seinem verklebten Bart; er war so steif und wund, zerschrammt und zerschlagen, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte, als er durchs flache Wasser humpelte und sich ächzend auf den Strand fallen ließ. Er sah so verhungert und verwildert aus wie ein angeketteter Hund, den man eine Woche lang in seiner Hütte vergessen hat. Es war Thorin, aber ihr hättet ihn nur an seiner Goldkette und an der Farbe seiner nun schmutzigen und zerlumpten himmelblauen Kapuze mit der fleckigen Silberquaste erkannt. Es dauerte eine Weile, bis er gegenüber dem Hobbit wenigstens wieder höflich wurde.
»Na, bist du nun tot oder lebendig?«, fragte Bilbo etwas unwirsch. Er hatte wohl vergessen, dass er den Zwergen immerhin eine Mahlzeit voraus hatte und dass er Arme und Beine hatte bewegen können, um von dem Segen des freien Atmens gar nicht zu reden. »Sitzt du noch im Gefängnis, oder bist du frei? Wenn du bald etwas zu essen haben und dieses blödsinnige Abenteuer fortsetzen willst – es ist schließlich deines und nicht meins –, dann solltest du dir jetzt die Arme um den Leib schlagen und die Beine massieren und dann versuchen, mir zu helfen, dass wir die andern rausholen, solange noch Zeit ist.«
Natürlich sah Thorin das ein, und nachdem er noch ein bisschen gestöhnt hatte, stand er auf und half dem Hobbit, so gut er konnte. Im Dunkeln in dem kalten Wasser herumzuplantschen, um die richtigen Fässer herauszufinden, wareine unangenehme Plackerei. Durch Klopfen und Rufen fanden sie nur sechs der Zwerge, die noch imstande waren, zu antworten. Diese packten sie aus und halfen ihnen aufs Trockene, wo sie sich knurrend und stöhnend hinsetzten oder hinlegten; sie waren so verkrampft und zerschlagen, dass sie ihre Befreiung noch gar nicht recht begreifen oder sich gebührend dafür bedanken konnten.
Dwalin und Balin waren am übelsten dran; um ihre Hilfe brauchte man gar nicht erst zu bitten. Bifur und Bofur waren trockener und nicht so schlimm durchgeschüttelt worden, aber sie blieben einfach liegen und wollten keinen Finger rühren. Fili und Kili aber, die noch jung waren (jedenfalls für Zwerge) und die auch mit viel Stroh und in kleineren Fässern besser verpackt gewesen waren, kamen mehr oder weniger lächelnd heraus, nur mit ein paar Schrammen und mit steifen Gliedern, die sie nicht lange behinderten.
»Mein Lebtag werde ich Äpfel nicht mehr riechen können«, sagte Fili. »Mein Fass roch danach. Immerzu den Geruch von Äpfeln in der Nase
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