Der Horizont: Roman (German Edition)
russische Buchhandlung in der Nähe vom Savignyplatz übernommen. Dann ist sie hierher gekommen.«
»Und warum heißt diese Buchhandlung Ladijnikov?«
»Sie hat den Namen der alten russischen Buchhandlung, die noch aus der Vorkriegszeit stammte, einfach behalten.«
Er selbst war Amerikaner, lebte aber seit einigen Jahren in Berlin, nicht weit von hier, im Umkreis der Dieffenbachstraße.
»Sie hat immer sehr interessante Bücher und Dokumente über Berlin.«
»Wie alt ist sie?«
»In Ihrem Alter.«
Bosmans erinnerte sich nicht mehr, wie alt er war.
»Ist sie verheiratet?«
»Nein, ich glaube, sie lebt allein.«
Er war aufgestanden und drückte Bosmans die Hand.
»Ich bringe Sie zu der Buchhandlung, wenn Sie möchten …«
»Ich gehe nicht gleich hin. Ich bleibe noch ein wenig hier, in der Sonne.«
»Wenn Sie weitere Auskünfte brauchen … ich arbeite an einem Buch über Berlin …« Er überreichte ihm eine Visitenkarte. »Ich bin fast immer hier im Viertel. Bestellen Sie der Buchhändlerin schöne Grüße von mir.«
Bosmans folgte ihm mit den Augen. Er verschwand an der Ecke Dieffenbachstraße. Auf seiner Visitenkarte stand der Name Rod Miller.
Bald würde er die Buchhandlung betreten. Er würde nicht genau wissen, wie er das Gespräch anknüpfen sollte. Vielleicht erkannte sie ihn nicht. Oder hatte ihn vergessen. Im Grunde genommen hatten sich ihre Wege nur für ganz kurze Zeit gekreuzt. Er würde sagen:
»Ich soll Ihnen schöne Grüße von Rod Miller bestellen.«
Er folgte der Dieffenbachstraße. Ein Platzregen ging nieder, ein Sommerregen, dessen Heftigkeit nachließ, während er im Schutz der Bäume weiterlief. Lange Zeit hatte er gedacht, Margaret sei tot. Es gibt dafür keinen Grund, nein, es gibt dafür keinen Grund. Selbst im Jahr unser beider Geburt, als diese Stadt vom Himmel gesehen nur mehr ein Trümmerhaufen war, blühte Flieder zwischen den Ruinen, versteckt in den Gärten.
Er war vom langen Gehen müde. Aber dieses eine Mal spürte er ein Gefühl innerer Ruhe und die Gewissheit, genau an den Ort zurückgekehrt zu sein, von dem er eines Tages aufgebrochen war, an die gleiche Stelle, zur gleichen Stunde und in die gleiche Jahreszeit, so wie zwei Zeiger sich auf dem Zifferblatt treffen, wenn Mittag ist. Er schwebte in einer leichten Benommenheit und ließ sich einlullen vom Kindergeschrei in der Grünanlage und dem Gemurmel der Stimmen um ihn herum. Sieben Uhr. Rod Miller hatte ihm gesagt, sie bleibe bis spätabends in der Buchhandlung.
Über den Autor/die Übersetzerin
Patrick Modiano
Patrick Modiano, 1945 geboren, ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller der Gegenwart.
Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt und den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur.
Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Ein Stammbaum (2007), Place de l’Étoile (2010) und Im Café der verlorenen Jugend (2012).
Elisabeth Edl
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte an der Universität Poitiers. Für ihre Übersetzungen französischer Literatur, u. a. Gustave Flaubert, Julien Green, Philippe Jaccottet, Stendhal und Simone Weil, wurde sie vielfach ausgezeichnet.
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