Der Horizont: Roman (German Edition)
Aufmerksamkeit auf sich ziehen, neutrale Namen, so neutral, dass die, die sie tragen, mit der Zeit anonym werden.
Er konnte seinen Blick nicht losreißen von Yvonne Gauchers Gesicht. Er fürchtete schon, ihren Blick auf sich zu ziehen. Nein. Sie sprach mit dem jungen Mädchen, und ein paar Worte drangen bis zu Bosmans – vor allem, was das Mädchen mit sehr klarer Stimme sagte. Sie siezte Yvonne Gaucher. »Wollen Sie Ihren Regenmantel anbehalten?« fragte sie, und Yvonne Gaucher nickte zustimmend. Ihr Gesicht war von vielen Falten überzogen, wie bei Leuten, die in ihrer Jugend zuviel in der Sonne gewesen sind. Bosmans erinnerte sich an Boyaval und seine pockennarbige Haut auf den Wangen. Aber das hier ist etwas ganz anderes, sagte er sich. Die Falten verschwinden, und ich sehe das glatte Gesicht dieser Frau wieder so vor mir, wie Margaret und ich sie gekannt haben.
Nur die Stimme verwirrte ihn, oder vielmehr die spärlichen Äußerungen, lauter kurze Antworten auf die Fragen, die ihr das Mädchen stellte. Eine rauhe Stimme. Sie kam von sehr weit her und war verbraucht durch die Zeit. Bosmans konnte einen ganzen Satz aufschnappen: »Ich muss gegen zehn zurück sein.« Vielleicht wohnte sie in einem Altersheim, wo die Insassen feste Zeiten hatten.
Der Kellner stellte eine Grenadine und ein Stück Apfelkuchen vor sie hin. Das Mädchen hatte eine Coca-Cola bestellt. Sie wechselten leise ein paar Worte. Wieder reichte ihr das Mädchen den Taschenkalender, in dem Yvonne Gaucher blätterte, als suche sie nach dem Datum einer Verabredung. Wegen ihres hochgeschlagenen Mantelkragens sah es aus, als säße sie in einem Wartesaal und studiere den Zugfahrplan.
»Ich muss gegen zehn zurück sein.« Bosmans wusste, dieser Satz würde in seinem Gedächtnis bleiben und jedesmal einen heftigen Schmerz auslösen, eine Art Seitenstechen. Er würde nie erfahren, was er bedeutete, und er würde ein Bedauern spüren, wie bei anderen abgebrochenen Worten, anderen durch Leichtsinn verlorenen Menschen. Wie dumm, ich brauche nur einen Schritt zu machen. Ich muss mit ihr sprechen. Er erinnerte sich an das Messingschild, das Margaret und ihn beim ersten Mal stutzig gemacht hatte und auf dem zwei Namen standen: Yvonne Gaucher. André Poutrel. Ihretwegen hatte Margaret Paris überstürzt verlassen, ohne dass er jemals herausfand, was geschehen war. An den darauffolgenden Tagen kaufte er alle Zeitungen und suchte auf den Seiten mit den vermischten Meldungen nach diesen beiden Namen: Yvonne Gaucher. André Poutrel. Nichts. Schweigen. Leere. Er hatte sich oft gefragt, ob Margaret mehr wusste. Er erinnerte sich auch an das, was Yvonne Gaucher schon bei ihrer ersten Begegnung gesagt hatte: »André wird Ihnen alles erklären.« Doch André hatte nichts erklärt. Oder hatte dafür keine Zeit gehabt. Einige Jahre später war er an der Nummer 194 der Avenue Victor-Hugo vorbeigekommen. Hier stand jetzt ein großes neues Gebäude mit Panoramafenstern. Yvonne Gaucher. André Poutrel. Es war, als hätten sie niemals existiert.
Yvonne Gaucher blätterte in ihrem Taschenkalender, und das Mädchen sagte leise ein paar Worte. Ja, natürlich, er brauchte nur einen Schritt zu machen. Ich werde sie fragen, was aus André Poutrel geworden ist und aus dem kleinen Peter. Der kleine Peter . So nannten sie ihn. Margaret und ich, wir nannten ihn einfach nur Peter. Sie wird mir endlich alle Erklärungen liefern, von Anfang an, seit jener fernen Zeit der »Freunde und Freundinnen aus der Rue Bleue …«. Doch es war ihm unmöglich aufzustehen, er fühlte sich schwer wie Blei. Ich habe nicht den Mut dazu. Es ist mir lieber, die Dinge bleiben im ungewissen. Wäre Margaret bei ihm gewesen, dann hätten sie sich zum Tisch von Yvonne Gaucher begeben. Aber so, ganz allein … Außerdem, war sie das wirklich? Es war besser, nichts Genaueres zu erfahren. Mit dem Zweifel bleibt wenigstens noch eine Art Hoffnung, eine Fluchtlinie in Richtung Horizont. Man sagt sich, die Zeit hat ihre zerstörerische Arbeit vielleicht noch nicht vollendet und es wird andere Zusammentreffen geben. Ich muss gegen zehn zurück sein.
Das junge Mädchen trank seine Coca-Cola mit einem Strohhalm. Yvonne Gaucher hatte den Apfelkuchen und die Grenadine vergessen und schaute geradeaus. Bosmans war diesen Blick von früher gewohnt, diesen aufmerksamen und naiven Ausdruck von jemandem, der trotz allem Vertrauen hat ins Leben. Für einen Moment ruhte dieser Blick auch auf ihm, doch sie schien ihn
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