Der Horizont: Roman (German Edition)
ihren abgelaufenen Pass, den sie immer bei sich trägt, herzeigen müssen, und der Mann hat sich ihren Namen und die Passnummer aufgeschrieben. Bosmans versucht noch einmal, ihr gut zuzureden und sie davon zu überzeugen, dass sie in Paris bleibt. Nein, Jean, es geht nicht. Sie wissen Dinge über mich, die ich dir nicht erzählt habe und die in ihren Akten stehen. Lieber will sie verschwinden, als am nächsten Tag bei ihnen zu erscheinen. Im übrigen kann sie ihnen gar nichts sagen über Doktor Poutrel und Yvonne Gaucher. Sie weiß nichts. Sie hat nie irgendwas gewusst. Und außerdem weiß ich sowieso nicht, was ich weiß. Sie ist seit langem entschlossen, auf Fragen nicht mehr zu antworten. Glaub mir, Jean, wenn sie Leute wie uns in den Fingern haben, lassen sie nicht wieder los.
Er besaß nach all den Jahren noch etwa zwanzig Bücher der Éditions du Sablier, die er in eine große Leinentasche gestopft hatte, als ihm seine Entlassung mitgeteilt worden war. Es sollte ein Mietshaus gebaut werden auf das Grundstück der Buchhandlung und der ehemaligen Werkstatt, die als Lager diente. Unter diesen Büchern die Werke über Okkultismus, die er Doktor Poutrel nicht mehr hatte bringen können.
In einem davon hatte er kürzlich zwischen den Blättern ein Rezeptformular von Doktor Poutrel wiedergefunden. Mit blauer Tinte und in großer Schrift standen darauf die Worte: »Zu Mademoiselle Suzanne Kraay. 32 Rue des Favorites, Paris 15. Arr.« Trotz all der Zeit wirkte die Tinte noch ganz frisch. Es war nicht zu spät hinzugehen. In der Gare du Nord, bevor sie in den Nachtzug gestiegen war, hatte ihm Margaret diesen Zettel gegeben: die von Yvonne Gaucher hastig aufgeschriebene Adresse, zu der sie Peter an jenem Nachmittag hatte bringen müssen. Bosmans war eine Weile mit ihr im Abteil geblieben. Sobald sie in Hamburg oder in Berlin sein würde, wollte sie ihm ihre Adresse mitteilen, und dann sollte er nachkommen. Am besten wäre es, hatte er gesagt, wenn sie ihm eine Nachricht in die Librairie du Sablier schicken oder dort unter der Nummer Gobelins 43 76 anrufen würde. Aber die Jahre vergingen, und es kamen weder Briefe noch klingelte je das Telefon.
Seit ihm gekündigt worden war und er Lucien Hornbachers Büro mit seiner Tasche voller Bücher für immer verlassen hatte, träumte er oft den gleichen Traum. Das Telefon klingelte lange in dem leeren Büro, er hörte das Klingeln aus der Ferne, konnte den Weg zur Buchhandlung aber nicht finden, er verirrte sich in einem Gewirr von kleinen Straßen eines Pariser Viertels, das er nicht kannte und das er beim Erwachen vergeblich auf einem Plan zu lokalisieren suchte. Bald hörte er auch kein Telefonklingeln mehr in seinen Träumen. Die Adresse der Librairie du Sablier existierte nicht mehr, und die Briefe aus Hamburg oder Berlin konnten ihren Bestimmungsort niemals erreichen. Margarets Gesicht entrückte schließlich und verlor sich am Horizont, wie an jenem Abend in der Gare du Nord, als der Zug angefahren war und sie sich aus dem Fenster gelehnt hatte und ihm noch ein paarmal zuwinkte. Und er selbst hatte in den verworrenen Jahren, die darauf gefolgt waren, so viele Nachtzüge genommen …
Er kannte diese Straße nicht. Obwohl er zu verschiedenen Zeiten seines Lebens in dieses Viertel gekommen und häufig an der Station Volontaires ausgestiegen war. Er fragte sich, warum er nach Margarets Abreise nicht versucht hatte herauszufinden, was aus dem kleinen Peter und seinen seltsamen Eltern geworden war. In der ersten Zeit hatte er ein so tiefes Gefühl von Leere empfunden wegen Margarets Schweigen … Und dann hatte allmählich das Vergessen für eine Weile die Oberhand gewonnen.
Rue des Favorites Nr. 32. Fünf Stockwerke. Er stand auf dem gegenüberliegenden Trottoir und betrachtete die Fassade. Er lief nicht Gefahr, die Aufmerksamkeit von Passanten auf sich zu ziehen. Samstagnachmittag. Die Straße war menschenleer. In einem anderen Leben und einem anderen Jahrhundert – bis zu welcher Etage war Margaret mit dem kleinen Peter hinaufgestiegen, um ihn besagter Suzanne Kraay anzuvertrauen? Jedes Stockwerk hatte fünf Fenster, und die in der Mitte der Fassade kragten aus, über der Eingangstür. Balkone, Terrassen, ein Gesims im fünften Stock.
Er klopfte an die Tür des Concierge.
»Wohnt Mademoiselle Suzanne Kraay noch hier?«
Eine Frau um die Dreißig. Sie schien nichts zu verstehen. Sie musterte ihn argwöhnisch. Er buchstabierte ihr den Namen. Sie schüttelte den
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