Der Horizont: Roman (German Edition)
und geheimnisvoll schien. Doch in jener Zeit dachten wir nicht darüber nach. Wir lebten noch, ohne unser Glück recht zu begreifen, in einer ewigen Gegenwart.
Bosmans wusste nicht mehr, wie alt Peter damals war: zwischen sechs und acht? In seiner Erinnerung fand er die pechschwarzen Augen wieder, die braunen Locken, seine verträumte Miene und sein über das Notizbuch aus Moleskin gebeugtes Gesicht. Es stimmt, er sah seinen Eltern nicht besonders ähnlich. Waren sie wirklich seine Eltern? Und außerdem, waren sie Mann und Frau, wie Standesbeamte zu sagen pflegen?
Er erinnerte sich an einige Spaziergänge mit Margaret und Peter, donnerstags, wenn er nicht in die École Montevideo gebracht wurde. Sie liefen zu dritt durch die Straßen von Auteuil, ganz in der Nähe von Margarets Zimmer. Oder durch den Parc Montsouris. Nach Margarets Verschwinden, als er nicht wusste, ob sie tot war oder lebendig, dachte er oft an diese Spaziergänge.
Was für ein merkwürdiger Zufall, dass gerade sie drei für ein paar Nachmittage zusammengefunden hatten … Im Parc Montsouris hatten sie beschlossen, Peter abwechselnd je eine halbe Stunde lang zu beaufsichtigen, während der andere lesen oder seinen Gedanken nachhängen konnte. Einmal hätten sie Peter in der Allée du Lac beinahe verloren. Obwohl sie schon alt genug waren, Eltern zu sein.
J ener Tag hat für Bosmans das Ende von etwas bedeutet. Er fragte sich oft: In welcher Jahreszeit war es bloß? Natürlich konnte er in alten Kalendern nachschauen. Mit Hilfe gewisser Bezugspunkte, die er noch im Gedächtnis hatte, würde er schließlich den genauen Tag und die Jahreszeit wiederfinden. Wahrscheinlich Frühling im Winter, wie er die schönen Tage im Januar und Februar gern nannte. Oder Sommer im Frühling, wenn es im April schon sehr heiß ist. Oder einfach Nachsommer, im Herbst – all diese Jahreszeiten, die miteinander verschmelzen und einem das Gefühl geben, die Zeit sei stehengeblieben.
Er suchte an jenem Nachmittag im Lager nach den Büchern, die Doktor Poutrel ihm auf seinem Briefpapier notiert hatte:
Geschichte der Gruppe Kumris , von Tinia Faery.
Verzeichnis der Ritter vom Schwanenorden .
Die Frau, ihre Rhythmen und die Liebesliturgien , von Valentin Bresle.
Die Heliopolis-Bruderschaft , von Claude d’Ygé.
Die stille Einheit , von H. Kirkwood.
Die Träume und die Mittel, sie zu steuern , von Hervey de Saint-Denys.
Er hörte das schwache Klingeln, das die Ankunft eines Kunden in der Buchhandlung vermeldete.
Margaret, mit verstörtem Gesicht. Sie konnte fast nicht sprechen. Kurz zuvor war sie mit Doktor Poutrel, Yvonne Gaucher und dem kleinen Peter in deren Wohnung gewesen. Sie wollte Peter gerade zur Schule begleiten. Es hatte an der Tür geläutet. Doktor Poutrel war hingegangen, um zu öffnen. Laute Stimmen. Im Vorzimmer rief Doktor Poutrel immer lauter: »Ganz gewiss nicht … Ganz gewiss nicht …« Er war mit drei Männern in das Sprechzimmer gekommen, und er trug Handschellen. Yvonne Gaucher stand sehr aufrecht da, unbewegt. Der kleine Peter klammerte sich fest an Margarets Hand. Einer der drei Männer war auf Yvonne Gaucher zugegangen, hatte einen Ausweis aus seiner Jackentasche gezogen, ihr hingehalten und gesagt: »Würden Sie bitte mitkommen, Madame …« Ihr legten sie keine Handschellen an. Die beiden anderen hatten Doktor Poutrel bereits aus dem Raum gezogen, Yvonne Gaucher setzte sich an den Schreibtisch, vom dritten Mann aufmerksam bewacht. Sie schrieb ein paar Worte auf ein Rezeptformular und reichte es Margaret.
»Bringen Sie Peter zu dieser Adresse.«
Sie küsste Peter, ohne etwas zu sagen, sie verließ den Raum mit dem Mann hinter sich, immer noch genauso aufrecht, genauso unbewegt, wie eine Schlafwandlerin.
Am Abend begleitet er Margaret zur Gare du Nord. Sie sind in ihrem Zimmer in Auteuil vorbeigegangen, wo sie überstürzt ihren Koffer gepackt hat. Sie vertraut ihm ihren Zimmerschlüssel an für den Fall, dass sie etwas vergessen hat, und damit er es später holen kann. Er erinnert sich nicht, ob sie eine Fahrkarte zweiter Klasse für den Nachtzug nach Berlin oder für den nach Hamburg gelöst hatte. Der Zug geht um neun. Sie haben noch eine Stunde. Sie sitzen einander gegenüber, im Hinterzimmer eines Cafés am Boulevard Magenta, und sie zeigt ihm das Papier, das ihr einer der Männer gegeben hat, die Doktor Poutrel und Yvonne Gaucher mitgenommen haben. Sie muss am nächsten Morgen um zehn am Quai des Orfèvres erscheinen. Sie hat
Weitere Kostenlose Bücher