Der Horizont: Roman (German Edition)
Kopf. Dann klappte die Tür ihrer Loge wieder zu.
Er hatte damit gerechnet, doch es war unwichtig. Draußen blieb er noch eine Weile vor der Fassade stehen. Sonne. Die Straße war still. In solchen Augenblicken hatte er die Gewissheit, dass man nur reglos auf dem Trottoir verharren musste, um langsam durch eine unsichtbare Mauer zu dringen. Obwohl man immer auf derselben Stelle blieb. Die Straße würde noch stiller sein und noch sonniger. Was einmal geschehen war, wiederholte sich endlos weiter. Von dort hinten, vom Ende der Straße, würde Margaret auf ihn und das Haus Nr. 32 zukommen, den kleinen Peter an der Hand – den Knirps, wie sie ihn nannte.
E s war Sommer in Berlin. Bis spät in die Nacht fuhren die Straßenbahnen in einer weiten Kurve auf die Kreuzung Zionskirchstraße/Kastanienallee. Sie waren fast leer. Bosmans dachte, er müsste bloß auf gut Glück in irgendeine einsteigen und schon käme er zu Margaret. Er würde das Gefühl haben, in die Vergangenheit zu reisen. Alles war einfacher, als er geglaubt hatte. In Paris hatte er wohl versucht, LE COZ und dann MARGARET LE COZ einzutippen, doch ohne Ergebnis. Im Halbschlaf waren ihm Sätze eingefallen, ähnlich jenen, die einen in Fiebernächten bruchstückhaft verfolgen: »Also sind Sie in der Bretagne geboren?« – »Nein. In Berlin.« Auf der Tastatur hatte er MARGARET LE COZ mit BERLIN verknüpft. Eine einzige Antwort auf dem Bildschirm: MARGARET LE COZ – Ladijnikov Buchladen. Dieffenbachstraße 16. 10405 Berlin. Telefon/Fax +49.(0)30.44.05.60.15. Er würde nicht anrufen. Er würde nicht eine dieser leeren Straßenbahnen nehmen, die durch die Nacht fuhren. Und auch nicht die U-Bahn. Er würde zu Fuß gehen.
Er war am frühen Nachmittag vom Prenzlauer Berg losmarschiert, mit einem Berlin-Plan in der Tasche. Er hatte sich den Weg mit einem roten Kugelschreiber eingezeichnet. Manchmal verlief er sich. Als er die Prenzlauer Allee hinuntergeschlendert war, hatte er sich gesagt, er könnte eine Straße links nehmen, und das wäre eine Abkürzung. Er war zu einem Hain voller Gräber gelangt. Auf dem Mittelweg dieses Waldfriedhofs überholte ihn ein radfahrendes junges Mädchen mit einem Kind auf dem Gepäckträger. In der Karl-Marx-Allee fühlte er sich nicht wirklich fremd, trotz der viel zu breiten Straße und der Betonklötze, die aussahen wie riesige Kasernen. Aber diese Stadt hat mein Alter. Auch ich habe im Verlauf all der Jahrzehnte versucht, rechtwinklige Straßen, schöne gerade Fassaden, Wegweiser zu bauen, um den Sumpf und das Durcheinander der Herkunft zu verbergen, die schlechten Eltern, die Jugendsünden. Und trotz allem stoße ich von Zeit zu Zeit auf ein ödes Gelände, das mich plötzlich die Abwesenheit von jemandem spüren lässt, oder auf eine Reihe alter Häuser, deren Fassaden die Wunden des Krieges tragen, wie ein Schuldgefühl. Er brauchte nicht mehr auf den Plan zu schauen. Er ging geradeaus, er überquerte die Eisenbahnbrücke, dann eine andere Brücke über die Spree. Und wenn das ein Umweg war, so hatte es keinerlei Bedeutung.
Entlang des Görlitzer Parks saßen junge Leute an den Tischen der Cafés, mitten auf dem Trottoir. Fortan sind Margaret und ich bestimmt die ältesten Bewohner dieser Stadt. Er ging durch den Park, der ihm zunächst wie eine Lichtung vorkam, dann über ein endloses ödes Gelände. Einst war hier ein Bahnhof, von dem Margaret vielleicht abgefahren war im Nachtzug. Doch woher wusste er das? Ihm schwirrte der Kopf. Er folgte jetzt dem Kanal, unter den Bäumen, und er fragte sich, ob er nicht am Ufer der Marne war.
Er hatte eine kleine Brücke überschritten. Vor ihm eine Grünanlage, auf der Kinder spielten. Er setzte sich an einen Tisch auf der Terrasse einer Pizzeria, von wo er die Brücke sah, die Häuser und Bäume, die den Kanal säumten auf der anderen Seite. Er war zu viel gelaufen. Ihm taten die Beine weh.
Am Nachbartisch saß ein etwa dreißigjähriger Mann, der eben ein Buch mit englischem Titel zugeschlagen hatte. Bosmans fragte ihn, wo die Dieffenbachstraße sei. Sie lag gleich hier um die Ecke, die erste links.
»Kennen Sie die Buchhandlung Ladijnikov?«
Er hatte seine Frage auf englisch gestellt.
»Ja, sehr gut.«
»Führt eine Frau diese Buchhandlung?«
»Ja. Ich glaube, sie ist gebürtige Französin. Sie spricht deutsch mit einem ganz leichten französischen Akzent. Es sei denn, sie ist Russin …«
»Sind Sie ein Kunde von ihr?«
»Seit zwei Jahren. Sie hatte die alte
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