Der Horizont: Roman (German Edition)
begegnen.
Eine Dunkelhaarige mit hellen Augen und Pferdeschwanz. Sie trug eine Wildlederjacke und einen an Taille und Knie eng anliegenden schwarzen Rock. In der Hand hielt sie eine Zigarette. Bosmans und Margaret brauchten sich nicht vorzustellen. Es war, als hätte sie die beiden immer schon gekannt und am Vortag zum letzten Mal gesehen.
»André hat noch Patienten … aber es wird nicht lange dauern …«
Und sie führte sie durch einen Flur bis zu einem Raum, der das Schlafzimmer von »André« und ihr sein musste. Weiße Wände. Ein sehr breites und sehr niedriges Bett. Keine Möbel. Sie sollten sich ans Fußende setzen.
»Verzeihen Sie, aber hier sind wir ungestört …«
Bosmans sah auf einem der Nachttische ein Buch liegen und erkannte es wegen seines vergilbten Einbands: Der Kreis der Astarte . Yvonne Gaucher hatte seinen Blick bemerkt.
»Wie lieb von Ihnen, ihm das zu geben«, sagte sie zu Bosmans. »André war ganz gerührt.«
Ein Schweigen entstand, das Bosmans brechen wollte. Schließlich sagte er mit einem Lächeln:
»Er hat mir gestanden, es sei eine Jugendsünde …«
Yvonne Gaucher wirkte verlegen.
»Oh … das war eine bestimmte Zeit in unserem Leben … Wir waren leichtfertig … Na ja, André wird Ihnen alles erklären …«
Und sie ging zum anderen Nachttisch, auf dem ein Aschenbecher stand. Sie drückte ihre Zigarette aus.
»Sie werden sehen«, sagte sie zu Margaret, »der kleine Peter ist ein sehr liebes Kind …«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Margaret.
»Sie sind an Kinder gewöhnt?« fragte Yvonne Gaucher.
»Wir mögen Kinder sehr«, sagte Bosmans.
Diesen Satz hatte er wenig später vor Doktor André Poutrel wiederholt. Margaret, Yvonne Gaucher und er saßen in einem großen Raum mit getäfelten Wänden, in dem er Sprechstunde hielt. Er trug eine auf der Seite geknöpfte weiße Tunika, und Bosmans sagte sich, vielleicht ist er Chirurg. Doch er traute sich nicht zu fragen, in welchem Bereich der Medizin er tätig war.
»Ich muss Ihnen den kleinen Peter vorstellen«, sagte Yvonne Gaucher zu Margaret. »Wir werden ihn von der Schule abholen.«
Dann drehte sie sich zu Doktor Poutrel:
»Vergiss deinen letzten Termin nicht.«
Sicher war sie die Assistentin ihres Mannes – aber war er ihr Mann? Sie trugen nicht den gleichen Namen, auf dem Schild am Hauseingang. Er fragte sie, um wieviel Uhr sein letzter Termin sei. Um sieben.
Er begleitete sie bis zur Wohnungstür:
»Ich habe Ihr Buch gelesen«, sagte Bosmans, als sie schon auf den Treppenabsatz hinaustraten.
»Wirklich?«
Doktor Poutrel musterte ihn mit ironischem Lächeln.
»Da bin ich aber gespannt auf Ihre Meinung.«
Dann schloss er leise die Tür.
Auf dem Trottoir ging Bosmans zwischen Margaret und Yvonne Gaucher. Diese war ein bisschen größer als Margaret, trotz ihrer flachen Absätze. Ihr schien nicht kalt zu sein in ihrer leichten Wildlederjacke. Sie hatte bloß den Kragen hochgestellt. Sie stiegen alle drei in den englischen Wagen von neulich. Margaret saß vorn.
»Der kleine Peter ist in einer Schule gleich um die Ecke, Rue de Montevideo«, sagte Yvonne Gaucher.
Sie steuerte das Auto auf eine nachlässige und zugleich nervöse Art. Bosmans schien es sogar, als wäre sie auf dem Weg in die Rue de Montevideo über eine rote Ampel gefahren.
Ich weiß fast nichts über diese Leute, dachte Bosmans. Und doch sind die paar Erinnerungen, die ich an sie habe, ziemlich genau. Kurze Begegnungen, bei denen Zufall und Haltlosigkeit eine größere Rolle spielen als in anderen Lebensabschnitten, Begegnungen ohne Zukunft, wie in einem Nachtzug. Oft entwickelte sich eine gewisse Nähe zwischen den Reisenden in den Nachtzügen seiner Jugend. Ja, mir ist so, als hätten Margaret und ich nie aufgehört, Nachtzüge zu nehmen, sodass diese Phase unserer Leben aufgesplittert ist, chaotisch, zerstückelt in unzählige, sehr kleine Sequenzen ohne den geringsten Zusammenhang … Und eine von unseren kurzen Reisen, die mir den stärksten Eindruck hinterlassen hat, ist die mit Doktor Poutrel, Yvonne Gaucher und dem »kleinen Peter« – so nannten sie ihn –, den wir aber, du und ich, lieber nur Peter nannten.
Unmöglich, Ordnung in die Sache zu bringen, vierzig Jahre später. Er hätte früher damit beginnen sollen. Wie jetzt noch die fehlenden Teile des Puzzles wiederfinden? Er musste sich mit den wenigen immer gleichen Details begnügen.
So hatte er, trotz all seiner Umzüge, André Poutrels Buch Der
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