Der Hüter des Schwertes
Prolog
Ezok brachte es nicht fertig, seinen Vorgesetzten zu ignorieren. Er hatte in den Diensten des Königs von Berellia gelernt, vieles zu übersehen, aber was zu viel war, war zu viel. Beispielsweise den Mann, von dem er in den letzten Jahren seine Befehle erhalten hatte, splitternackt und geknebelt an eine der Säulen des prächtigen Thronsaals gefesselt vorzufinden. Sosehr er sich auch bemühte, die beeindruckenden Wandteppiche oder den makellosen Marmorfußboden zu betrachten, sein Blick wanderte immer wieder zu dem bizarren Bild zurück.
»Nicht so schüchtern, Ezok!«, donnerte der König von seinem Thron. »Präge dir gut ein, wie ich Versagen vergelte.«
Widerstrebend wandte sich Ezok dem ehemaligen Botschafter Berellias in Norstalos zu. Über dem dicken Knebel traten dem Mann beinahe die Augen aus dem Kopf; sie schienen um Hilfe zu flehen. Ezok hatte nicht die Absicht, einem Mann zu helfen, den er verachtete. Und selbst wenn er es vorgehabt hätte – die abschreckende Gestalt, die hinter einer der dekorativen Säulen des Thronsaals ins trübe Licht von etwa zwanzig Laternen trat, würde ihm sogleich die Dummheit dieser Idee vor Augen geführt haben.
Vom hellen Licht des Tages drang hier nichts herein, denn die Fenster waren mit metallenen Fensterläden verschlossen. Außerdem hatte man die Türen des Saals hinter Ezok verriegelt, und auf den Galerien fehlten die üblichen Scharen von Höflingen, Frauen und Wachen. Wenn Ezoks Informant recht hatte, waren diese Vorkehrungen wegen des letzten Gastes des Königs getroffen worden, nach dem umzusehen Ezok sich nicht wagte. Stattdessen blickte er weiter den Mann an, der sein Leben innerhalb eines Augenblicks beenden konnte, wenn der König den Befehl dazu gab. Er hieß Cezar, war aber besser bekannt unter seinem Titel: Streiter des Königs. Er machte einen unscheinbaren Eindruck, aber seine Aufgabe war es nicht, Eindruck zu schinden. Seine Aufgabe war das Töten.
Cezars Gesicht war von dunklem Stoff verdeckt, nur seine Augen waren sichtbar, und ihr Blick schien sich förmlich in Ezok hineinzubohren. Der neu ernannte Botschafter trug Kleider nach dem letzten Schrei berellianischer Mode – goldfarbenes Hemd, dunkelgrüne Hose und dazu passender Umhang –, und er wusste, dass seine hochgewachsene, muskulöse Gestalt sie aufs Beste zur Geltung brachte. Sein langes dunkles Haar wurde von einem silbernen Band aus dem Gesicht gehalten, das mit den klassisch blauen, berellianischen Augen und hohen Wangenknochen durchaus attraktiv war. Ezok wusste, dass er gut aussah. Er hatte genug Zeit vor dem Spiegel verbracht, nachdem er zum Palast gerufen worden war. Aber er bezweifelte, dass Cezar sein Aussehen bewunderte. Er wandte sich ab und verneigte sich tief vor seinem König.
König Markuz war eine machtvolle Erscheinung. Er trug wie immer ein glitzerndes, ärmelloses Kettenhemd, das poliert war, sodass es wie Silber glänzte. Darunter trug er ein langärmliges Hemd aus Gold, dazu passende Hosen und hohe Reitstiefel aus schwarzem Leder. Er wirkte beeindruckend, und in Berellia war die äußere Form alles. Aber seine Züge verrieten die Last seiner Würde. Ezok sah Falten der Angst und Sorge; sie waren in dem Gesicht seines Monarchen erschienen, seit Berellia die rallorischen Kriege verloren hatte – eine bittere Niederlage, die keine noch so überhebliche Bekanntmachung ungeschehen machen konnte.
»Unseren Glückwunsch, Ezok! Deine hervorragende Arbeit in Norstalos soll belohnt werden. Nach dem traurigen Tod deines Vorgängers wirst du unser Botschafter dort sein«, verkündete Markuz.
Ezok verneigte sich erneut und überhörte die merkwürdigen Geräusche, mit denen sein Vorgänger vergeblich gegen seine Fesseln ankämpfte.
»Erzähl mir von Norstalos«, zischte der letzte Gast des Königs und trat aus den tiefen Schatten.
Bei seinem bloßen Anblick blieb Ezok fast das Herz stehen.
Er war eingehüllt in eine bis auf die Füße reichende, rostrote Robe, unter deren Kapuze sein Gesicht nicht zu erkennen war. Seine Hände ragten nur knapp aus den langen Ärmeln der Kutte und waren von Handschuhen bedeckt. Die wollene Kutte wurde von einem eigenartigen Streifen blassen Stoffs zusammengehalten und zeigte eine große schwarze Rune auf der Brust. Es hieß, der Gürtel sei aus menschlicher Haut gefertigt, und die Rune stehe für den geheimen Namen des Kuttenträgers, den ihm der Dunkle Gott selbst gegeben habe. Er war ein Geweihter des Dunklen Gottes Zorva, ein
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