Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hund kommt - Roman

Der Hund kommt - Roman

Titel: Der Hund kommt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Noestlinger
Vom Netzwerk:
weit gekommen war, legte er den Kugelschreiber weg, sagte zu sich: »Kinder belügt man in wichtigen Angelegenheiten nicht«, zerknüllte den Brief und schrieb einen neuen.
    Er schrieb:
    Liebe Schüler,
    ich bin gar kein Lehrer.
    Ich bin nur ein gewöhnlicher
    Wanderhund. Nehmt es mir bitte
    nicht übel. Es war sehr nett bei
    Euch.
    Euer Hund,
    der euch nie vergessen wird.
    Der Hund lief in die Wirtsstube, um sich vom Wirt ein Kuvert für den Brief zu holen. Aber der Wirt hatte kein Kuvert. So lief der Hund ins Kaufhaus.
    Die Verkäuferin dort schenkte dem Hund das Kuvert. Sie sagte: »Mein Sohn, der Ignaz, geht zu Ihnen in die Klasse. Er hat mir erzählt, dass Sie ein ganz supertoller Lehrer sind!«
    Als der Hund mit dem Briefkuvert in sein Zimmer zurückkam, saßen die Carmen-Anna und die Lolita-Eva auf seinem Bett. Sie schauten traurig.
    »Wir wollten dir Blumen bringen«, sagte die Carmen-Anna.
    »Damit du es gemütlich hast«, sagte die Lolita-Eva.
    »Und da haben wir den Brief gelesen«, sagte die Carmen-Anna.
    »Weil er ja auch an uns geschrieben ist«, sagte die Lolita-Eva.
    Der Hund senkte den Kopf und starrte seine Hinterpfotenspitzen an. Er schämte sich schrecklich.
    »Uns stört es nicht, dass du kein gelernter Lehrer bist«, sagte die Carmen-Anna.
    »Und den anderen Kindern ist es sicher auch wurscht«, sagte die Lolita-Eva.
    »Wir haben dich nämlich sehr, sehr lieb«, sagte die Carmen-Anna.
    Der Hund war gerührt. Er holte sein Taschentuch aus der Wanderniere und schnäuzte sich.
    »Bleib wenigstens noch eine Woche bei uns«, bat die Lolita-Eva.
    »Wenigstens morgen noch!«, bat die Carmen-Anna.
    »O.K.«, brummte der Hund, wischte sich zwei Tränen der Rührung aus den Augen und steckte das Taschentuch in die Wanderniere zurück. »Aber wirklich nur morgen noch!«
    Leuten, die ihn lieb hatten, konnte der Hund einfach keine Bitte abschlagen.
    Der Hund blieb noch zehn Tage Lehrer, weil ihn die Kinder jeden Tag baten, noch einen Tag – einen einzigen Tag – zuzulegen. Alle Kinder in seiner Klasse wussten, dass er kein richtiger Lehrer war. Die Carmen-Anna und die Lolita-Eva hatten es ihnen erzählt, und sie hatten geschworen, niemandem davon zu erzählen. Die Kinder hielten den Schwur und hatten es mit dem Hund sehr schön. Fast jeden Tag machten sie einen Lehrausflug. Einmal gingen sie in die Bäckerei und lernten Brot und Kipferln backen. Einmal gingen sie in die Gärtnerei und lernten Blumen umtopfen. In die Schneiderei, zum Schuster und auf einen Bauernhof gingen sie auch. Einmal setzten sie im Schulhof Bäume. Für jedes Kind einen Baum. Einmal malten sie mit dicken Pinseln die hässlichen, grauen Mauern vom Schulhaus himmelblau an. Lieder pfeifen lehrte der Hund die Kinder auch!
    Aber er vergaß auch nicht das Rechnen und Schreiben und Lesen.
    Wenn man ausrechnen muss, wie viel Malfarbe man für ein ganzes Schulhaus braucht und wie viel Sauerteig auf 13 Kilo Roggenmehl kommt und wie viel Stoff man für sieben Hosen braucht, kommt man am Rechnen einfach nicht vorbei. Und da die Kinder immer aufschrieben, was sie erlebt hatten, kam auch das Schreiben nicht zu kurz. Und jeden Abend setzte sich der Hund hin und schrieb eine Geschichte aus seinem Leben auf. Die lasen die Kinder dann am nächsten Tag.
    Am zwölften Schultag vom Hund regnete es in Strömen. Darum machte der Hund mit den Kindern keinen Lehrausflug. Er blieb mit ihnen in der Klasse und erzählte ihnen ein bisschen von seiner Kopfkartei und von all den Wolken, die er darin gesammelt hatte. Die Kinder und der Hund standen bei den Klassenfenstern, während der Hund erzählte, weil die Kinder auch Wolken mit dem Hirn fotografieren wollten. Leider war der Himmel aber einfarbig dunkelgrau und nirgendwo war eine einzelne Wolke zu sehen. Leider war etwas ganz anderes zu sehen: Ein Auto kam zur Schule gefahren. Das Auto hielt vor der Schule. Ein Mann sprang aus dem Auto, spannte einen Regenschirm auf und lief auf das Schultor zu. Der Mann war lang und dürr und, seinem Gesicht nach, ein Halbesel. Oder ein Halbmensch. Je nachdem, wie man die Sache ansah.
    Der Hund sagte leise zu den Kindern: »Vielleicht ist das ein Vater, der nachfragen kommt!«
    Die Kinder schüttelten die Köpfe. Sie kannten die Väter ihrer Mitschüler. Auch die von den Kindern der anderen Klasse. »Der ist nicht von hier«, sagten sie.
    Dann standen die Kinder und der Hund ganz still. Sie waren so still, dass sie das Schultor quietschen hörten, als der Mann die Schule

Weitere Kostenlose Bücher