Der Hund von Baskerville
zwischen uns wurde immer größer. Schließlich gaben wir auf, setzten uns keuchend auf zwei Steine und sahen zu, wie er in der Ferne verschwand.
Und gerade in diesem Augenblick geschah etwas ganz Seltsames und Unerwartetes. Wir hatten uns erhoben und wollten uns auf den Heimweg machen, denn eine weitere Verfolgung schien zwecklos. Der Mond stand tief zu unserer Rechten, und von dem unteren Rand der silbrigen Scheibe hob sich das turmartige Gebilde eines zerklüfteten Granitfelsens ab. Dort sah ich scharf umrissen und schwarz wie eine Ebenholzfigur vor dem leuchtenden Hintergrund die Gestalt eines Mannes stehen. Glauben Sie nicht, daß es eine Sinnestäuschung war, Holmes. Ich versichere Ihnen, daß ich nie in meinem Leben etwas so klar gesehen habe. Soweit ich es beurteilen konnte, war es ein großer, schlanker Mann. Er stand da, die Beine etwas gespreizt, die Arme gekreuzt, mit gesenktem Kopf, als grüble er über diese enorme Wüste aus Sumpf und Granit, die da vor ihm lag, nach. Es hätte gut der Moorgeist selbst sein können, der an diesem fürchterlichen Ort herrschen soll. Der Sträfling war es nicht, denn dieser Mann befand sich weit weg von der Stelle, wo der andere verschwunden war. Außerdem war er viel größer. Mit einem Schrei der Überraschung wies ich den Baronet auf die Erscheinung hin. Aber in dem Augenblick, als ich mich umgedreht hatte, um nach seinem Arm zu greifen, war der Mann verschwunden.
Die scharfgezackte Felsspitze ragte immer noch in den unteren Teil des Mondes hinein, aber man sah oben keine Spur mehr von der geisterhaft schweigenden, reglosen Gestalt.
Ich hatte große Lust, in diese Richtung zu gehen und den Granitturm einer genauen Untersuchung zu unterziehen, aber er war ein gutes Stück entfernt. Die Nerven des Baronet waren von jenem merkwürdigen Geheul noch angegriffen, das die dunkle Familiengeschichte wieder in ihm wachgerufen hatte, und er verspürte keinerlei Lust auf neue Abenteuer. Er hatte den einsamen Mann auf dem Felsen nicht gesehen, und so konnte er meine Aufregung auch nicht nachempfinden, die sein seltsames Auftauchen und seine befehlsgewohnte Haltung mir eingeflößt hatte.
»Sicher einer von der Wachmannschaft«, sagte der Baronet. »Seit dieser Bursche entflohen ist, wimmelt das Moor von ihnen. «
Nun, vielleicht hatte er sogar recht mit seiner Erklärung, nur hätte ich sie gern bestätigt gesehen. Heute wollen wir mit den Leuten von Princetown in Verbindung treten, um ihnen zu sagen, wo sie ihren Ausreißer finden können. Aber es ist doch schade, daß uns nicht der Triumph vergönnt ist, ihn selbst eingefangen und zurückgebracht zu haben. Das also sind die Abenteuer der letzten Nacht. Sie müssen zugeben, mein lieber Holmes, daß ich Ihnen sehr fleißig Berichte schreibe. Vieles von dem, was ich Ihnen erzähle, ist sicherlich ganz unbedeutend, aber ich denke, es ist gut, wenn ich Ihnen einfach die Tatsachen berichte und die Auswahl, was davon wichtig ist, Ihnen überlasse. Wir kommen ganz gewiß voran. Was die Barrymores betrifft, so haben wir die Motive für ihr Handeln gefunden, so daß wir jetzt hier eine klare Situation haben. Aber das Moor mit seinen Geheimnissen und seinen seltsamen Bewohnern ist so undurchschaubar wie eh und je. Vielleicht bin ich imstande, in meinem nächsten Bericht auch in diese Dunkelheit etwas Licht zu bringen. Das Beste wäre allerdings, sie kämen selbst zu uns. Auf jeden Fall werden Sie im Laufe der nächsten Tage wieder von mir hören.
10. KAPITEL
Auszüge aus Dr. Watsons Tagebuch
Bisher war es mir möglich, mich an die Berichte zu halten, die ich während der ersten Zeit an Sherlock Holmes geschrieben habe. Nun bin ich jedoch an einem Punkt meiner Erzählung angelangt, wo ich mich gezwungen sehe, diese Methode aufzugeben und meinen Erinnerungen zu vertrauen, unterstützt von meinem Tagebuch, das ich zu der Zeit geführt habe. Ein paar Auszüge daraus führen zurück zu Szenen, deren Einzelheiten in meiner Erinnerung unauslöschlich sind. Ich fahre also fort mit dem Morgen, der auf unsere ergebnislose Verfolgung des Sträflings und die anderen seltsamen Erlebnisse auf dem Moor folgte.
16. Oktober. Ein trüber und nebliger Tag, ab und zu etwas Nieselregen. Das Haus ist eingehüllt in Nebelbänke, die sich ab und zu lichten, um die trostlose Moorlandschaft zu zeigen. Deren Eintönigkeit wird nur dort unterbrochen, wo dünne Silberadern an den Flanken der Hügel glitzern und Granitblöcke in der Ferne
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