Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Vom Netzwerk:
hinaus. Der Fürst sah keinen Anlaß dazu, jemand um
Spionsdienste zu ersuchen, selbst wenn er dazu fähig gewesen wäre.
Aglajas Befehl, er solle zu Hause bleiben, war jetzt beinah aufgeklärt:
vielleicht wollte sie ihn abholen. Denkbar war allerdings auch, daß sie
nicht wünschte, daß er durch irgendeinen Zufall dorthin geriete, und
ihm deshalb befohlen hatte, zu Hause zu bleiben ...
    Auch das war möglich. Der Kopf schwindelte ihm; das ganze Zimmer
drehte sich um ihn. Er legte sich auf das Sofa und schloß die Augen.
    So oder so, jedenfalls kam die Sache jetzt zur Entscheidung, zum
Abschluß. Nein, der Fürst hielt Aglaja nicht für ein Modedämchen oder
für ein Pensionsfräulein; er fühlte jetzt, daß er schon längst gerade
etwas Derartiges gefürchtet hatte; aber zu welchem Zweck wollte sie mit
Nastasja Filippowna zusammenkommen? Ein kalter Schauder lief ihm über
den ganzen Leib; er fieberte wieder.
    Nein, er hielt sie nicht für ein Kind! Manche ihrer Blicke, manche
ihrer Worte hatten ihn in der letzten Zeit erschreckt. Manchmal war es
ihm vorgekommen, als ob sie sich zu sehr Zwang antat, sich zu sehr
zurückhielt, und er erinnerte sich, daß ihn das geängstigt hatte.
Allerdings hatte er sich alle diese Tage her bemüht, nicht daran zu
denken, hatte die bedrückenden Gedanken verscheucht; aber was lag in
dieser Seele verborgen? Diese Frage hatte ihn schon lange gequält,
obgleich er an diese Seele glaubte. Und nun sollte dies alles heute zur
Entscheidung gelangen und aufgedeckt werden! Ein entsetzlicher Gedanke!
Und dann auf der andern Seite »dieses Weib«! Warum hatte er nur immer
die Vorstellung gehabt, daß dieses Weib gerade im letzten Augenblick
erscheinen und sein ganzes Schicksal wie einen mürben Faden zerreißen
werde? Daß er immer diese Vorstellung gehabt habe, das hätte er jetzt
beschwören mögen, obgleich seine Gedanken fast so wirr waren wie im
Fieber. Wenn er sich in der letzten Zeit bemüht hatte, »sie« zu
vergessen, so hatte er das einzig und allein getan, weil er sie
fürchtete. Wie stand es: liebte er dieses Weib, oder haßte er es? Diese
Frage legte er sich heute kein einziges Mal vor; in dieser Hinsicht war
sein Herz rein: er wußte, wen er liebte ... Er fürchtete nicht sowohl
die Zusammenkunft der beiden, nicht die Seltsamkeit und den ihm
unbekannten Grund dieser Zusammenkunft, nicht die Entscheidung, wie
auch immer sie fallen mochte: er fürchtete Nastasja Filippowna selbst.
Er erinnerte sich sogar später, nach einigen Tagen, daß ihm in diesen
fieberhaften Stunden fast die ganze Zeit über ihre Augen und ihr Blick
vor der Seele gestanden hatten, daß er ihre Worte, seltsame Worte, zu
hören geglaubt hatte, obgleich nach diesen fieberhaften, kummervollen
Stunden ihm nachher nur sehr wenig Erinnerung zurückgeblieben war. Er
erinnerte sich zum Beispiel kaum daran, daß Wjera ihm das Mittagessen
gebracht und er gegessen hatte; aber er erinnerte sich nicht, ob er
nach dem Essen geschlafen hatte oder nicht. Er wußte nur, daß er an
diesem Abend alles erst von dem Augenblick an völlig klar zu
unterscheiden angefangen hatte, als Aglaja auf einmal zu ihm auf die
Veranda gekommen und er vom Sofa aufgesprungen und in die Mitte des
Raums getreten war, um sie zu begrüßen: es war ein Viertel auf acht.
Aglaja war ganz allein; sie trug einfache Kleidung, die sie anscheinend
in der Hast angelegt hatte, darüber einen leichten Burnus. Ihr Gesicht
war blaß wie vorhin; aber ihre Augen funkelten in einem hellen,
trockenen Glanz; einen solchen Ausdruck der Augen hatte er bisher nie
an ihr kennengelernt. Sie blickte ihn aufmerksam an.
    »Sie sind ganz fertig«, bemerkte sie leise und anscheinend ruhig;
»angezogen und mit dem Hut in der Hand; also hat Sie jemand
benachrichtigt, und ich weiß auch, wer: Ippolit?«
    »Ja, er hat es mir gesagt ...«, murmelte der Fürst, beinah halbtot vor Aufregung.
    »Nun, dann kommen Sie; Sie wissen, daß Sie mich unbedingt begleiten
müssen. Ich meine, Sie sind doch wohl soweit bei Kräften, daß Sie
ausgehen können?«
    »Ja, das bin ich; aber ... ist es denn möglich?«
    Er stockte sofort wieder und vermochte kein Wort mehr
herauszubringen. Dies war sein einziger Versuch, die Wahnsinnige
zurückzuhalten; dann folgte er ihr wie ein Sklave. Wie unklar auch
seine Gedanken waren, so begriff er doch, daß sie auch ohne ihn dorthin
gehen würde und er ihr daher unter allen Umständen folgen müsse. Er
ahnte, wie stark ihre Entschlossenheit war; er war

Weitere Kostenlose Bücher