Der Idiot
gelangen konnte? Jeden Morgen ging dieselbe helle Sonne auf; jeden Morgen stand über dem Wasserfall ein Regenbogen; jeden Abend flammte der höchste, schneebedeckte Berg dort in der Ferne am Rande des Himmels in purpurner Glut auf; jede kleine Fliege, die im warmen Sonnenstrahl um ihn herumsummte, nahm an diesem ganzen Festchor teil, kannte ihren Platz, liebte ihn und war glücklich; jedes Gräschen wuchs und war glücklich! Und alles hatte seinen gewiesenen Weg, und alles kannte seinen Weg und kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts, weder die Menschen noch die Töne; er stand allem fremd gegenüber; er war ein Ausgestoßener. Er konnte seinen Gedanken damals natürlich nicht mit diesen Worten aussprechen und ausdrücken; er quälte sich taub und stumm; aber jetzt schien es ihm, als habe er all dies schon damals gesagt, all diese selben Worte, und als habe Ippolit das über die Fliege Gesagte von ihm selbst, aus seinen damaligen Worten und Tränen, herübergenommen. Er war davon überzeugt, und das Herz begann ihm bei diesem Gedanken heftig zu klopfen ...
Er schlief auf der Bank ein; aber seine Unruhe setzte sich auch im Schlaf fort. Unmittelbar vor dem Einschlafen erinnerte er sich an die Befürchtung, daß Ippolit ein Dutzend Menschen ermorden werde, und mußte über das Absurde dieser Vorstellung lächeln. Um ihn herum herrschte eine schöne, reine Stille; nur die Blätter rauschten leise, und davon schien es ringsumher noch stiller und einsamer zu werden. Er träumte sehr viel, und es waren lauter unruhige Träume, infolge deren er alle Augenblicke zusammenschrak. Schließlich träumte er, es käme eine Frau zu ihm; er kannte sie, kannte sie mit Schmerzen; er konnte einem jeden ihren Namen nennen, sie einem jeden zeigen; aber seltsam: sie hatte jetzt ein ganz anderes Gesicht als dasjenige, das er immer gekannt hatte, und er gab sich mit innerer Qual alle mögliche Mühe, sie nicht als jene Frau wiederzuerkennen. In diesem Gesicht lag so viel Reue und Angst, daß es schien, sie sei eine furchtbare Verbrecherin und habe soeben eine schreckliche Tat begangen. Eine Träne zitterte auf ihrer blassen Wange; sie winkte ihm mit der Hand und legte den Finger an die Lippen, wie wenn sie ihn auffordern wollte, ihr leise zu folgen. Das Herz stand ihm still; um keinen Preis, um keinen Preis wollte er sie für eine Verbrecherin halten; aber er fühlte, daß sogleich etwas Schreckliches vorgehen werde, durch das sein ganzes Leben werde beeinflußt werden. Sie schien ihm etwas zeigen zu wollen, ganz in der Nähe, im Park. Er erhob sich, um ihr nachzugehen, und auf einmal hörte er, wie neben ihm jemand frisch und fröhlich lachte; eine Hand befand sich in der seinigen; er erfaßte diese Hand, drückte sie kräftig und erwachte. Vor ihm stand laut lachend Aglaja.
Fußnoten
1 Lacenaire, ein berüchtigter Mörder, der 1836 in Paris hingerichtet wurde. Es gibt »Mémoires, révélations et poésies de Lacenaire«, 1836, 2 Bände (ob echt?). (A.d.Ü.)
VIII
Sie lachte; aber sie war zugleich unwillig.
»Er schläft! Sie haben geschlafen!« rief sie verwundert und geringschätzig.
»Sie sind es!« murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte.
»Ach ja! Das Rendezvous ...! Ich habe hier geschlafen.«
»Das habe ich gesehen.«
»Hat mich außer Ihnen niemand geweckt? War außer Ihnen niemand hier? Ich glaubte, es sei ... eine andere Frau hier gewesen.«
»Eine andere Frau sollte hier gewesen sein?«
Endlich hatte er seine Gedanken wieder vollständig gesammelt.
»Es war nur ein Traum«, sagte er nachdenklich. »Sonderbar, daß mir in einem solchen Augenblick so etwas träumte ... Setzen Sie sich!«
Er faßte sie bei der Hand und veranlaßte sie, sich auf die Bank zu setzen; er selbst setzte sich neben sie und überließ sich seinen Gedanken. Aglaja begann das Gespräch nicht, sondern blickte den neben ihr Sitzenden nur unverwandt an. Er schaute sie ebenfalls an, aber manchmal so, als ob er sie überhaupt nicht vor sich sähe. Sie errötete.
»Ach ja!« sagte der Fürst zusammenfahrend. »Ippolit hat sich erschossen!«
»Wann? In Ihrer Wohnung?« fragte sie, aber ohne großes Erstaunen. »Gestern abend lebte er ja doch wohl noch? Wie konnten Sie denn nach einem solchen Vorfall hier schlafen?« rief sie, plötzlich lebhaft werdend.
»Aber er ist ja nicht tot; die Pistole versagte.«
Auf Aglajas dringendes Verlangen mußte der
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