Der Idiot
bei ihr mit großer Offenheit und außerordentlicher Schnelligkeit. Der Fürst freute sich ebenfalls und lachte sogar vor Vergnügen, indem er sie anblickte.
»So hören Sie denn«, begann sie wieder, »ich habe lange auf Sie gewartet, um Ihnen das alles zu erzählen, gleich von der Zeit an, wo Sie mir von dort den Brief geschrieben hatten, und sogar schon früher ... Die Hälfte haben Sie von mir schon gestern gehört: ich halte Sie für den ehrlichsten und wahrheitsliebendsten Menschen; Sie sind ehrlicher und wahrheitsliebender als alle anderen, und wenn man von Ihnen sagt, daß Ihr Verstand ... das heißt, daß Ihr Verstand mitunter nicht ganz gesund ist, so ist das ungerecht; das ist meine entschiedene Überzeugung, die ich auch verfochten habe; denn wenn Ihr Verstand auch wirklich nicht ganz gesund sein sollte (Sie werden mir das ja gewiß nicht übelnehmen; ich rede von einem höheren Gesichtspunkt aus), so ist dafür Ihr Hauptverstand besser als bei ihnen allen, sogar so gut, wie sie es sich gar nicht träumen lassen. Denn es gibt zwei Arten von Verstand, einen Hauptverstand und einen Nebenverstand. Nicht wahr? So ist es doch?«
»Vielleicht ist es so«, sagte der Fürst kaum vernehmbar; das Herz zitterte und klopfte ihm gewaltig.
»Ich wußte, daß Sie es verstehen würden«, fuhr sie mit wichtiger Miene fort: »Fürst Schtsch. und Jewgeni Pawlowitsch verstehen von diesen beiden Arten von Verstand nichts und Alexandra ebensowenig; aber denken Sie sich: Mama verstand es!«
»Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Lisaweta Prokofjewna.«
»Wieso? Wirklich?« fragte Aglaja erstaunt.
»Wahrhaft, das ist meine Ansicht.«
»Ich danke Ihnen«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich freue mich sehr, daß ich mit Mama Ähnlichkeit habe. Sie schätzen sie also wohl sehr hoch?« fügte sie hinzu, ohne die Naivität der Frage gewahr zu werden.
»Sehr hoch, sehr hoch, und ich freue mich, daß Sie das so ohne weiteres herausgefühlt haben.«
»Ich freue mich ebenfalls; denn ich habe bemerkt, daß man sich manchmal ... über sie lustig macht. Aber nun hören Sie die Hauptsache: ich habe es lange überlegt und schließlich Sie ausgewählt. Ich will nicht, daß man sich zu Hause über mich lustig macht; ich will nicht, daß man mich für eine kleine Närrin hält; ich will nicht, daß man mich aufzieht ... Ich habe das alles durchschaut und habe Jewgeni Pawlowitsch mit aller Entschiedenheit abgewiesen, weil ich nicht will, daß man mich ununterbrochen unter die Haube zu bringen sucht! Ich will ... ich will ... nun, ich will von zu Hause weglaufen, und ich habe Sie dazu ausgewählt, mir zu helfen.«
»Von zu Hause weglaufen!?« rief der Fürst.
»Ja, ja, ja, von zu Hause weglaufen!« rief sie plötzlich, in heftigem Zorn aufflammend. »Ich will nicht, ich will nicht, daß sie mich dort fortwährend zwingen zu erröten. Ich will nicht vor ihnen erröten, auch nicht vor dem Fürsten Schtsch., auch nicht vor Jewgeni Pawlowitsch und vor keinem Menschen, und darum habe ich Sie ausgewählt. Mit Ihnen will ich alles, alles besprechen, sobald ich nur Lust habe, sogar das Wichtigste; und Sie dürfen mir Ihrerseits auch nichts verbergen. Ich will wenigstens mit
einem
Menschen über alles so reden können wie mit mir selbst. Die Meinigen haben auf einmal angefangen so zu reden, als ob ich auf Sie wartete und Sie liebte. Das ging schon so vor Ihrer Ankunft, und ich hatte ihnen Ihren Brief doch gar nicht gezeigt; aber jetzt reden sie nun schon alle davon. Ich will kühn sein und mich vor nichts fürchten. Ich will nicht auf ihre Bälle gehen; ich will Nutzen bringen. Ich habe schon längst davongehen wollen. Ich habe zwanzig Jahre lang bei ihnen wie in einem Käfig gesessen, und immer wollen sie mich unter die Haube bringen. Schon als ich vierzehn Jahre alt war, dachte ich daran davonzulaufen, obwohl ich damals noch dumm war. Jetzt aber habe ich mir schon alles gut überlegt und habe auf Sie gewartet, um Sie gründlich über das Ausland zu befragen. Ich habe noch nie einen gotischen Dom gesehen; ich will in Rom sein; ich will alle wissenschaftlichen Sammlungen ansehen; ich will in Paris studieren; ich habe mich das ganze letzte Jahr über vorbereitet und studiert und sehr viele Bücher gelesen; ich habe auch alle möglichen verbotenen Bücher gelesen. Alexandra und Adelaida lesen allerlei Bücher; sie dürfen das. Aber mir werden nicht alle in die Hände gegeben; ich stehe unter Aufsicht. Ich will mich mit meinen Schwestern nicht
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