Schwarzes Feuer: Die Herren der Unterwelt (German Edition)
1. KAPITEL
Jeden Tag seit vielen Jahrhunderten war die Göttin auf ihrem Weg an ihm vorbeigekommen, wenn sie der Hölle ihren allabendlichen Besuch abstattete. Und jeden Tag hatte Geryon sie von seinem Posten aus beobachtet, während die heimliche Sehnsucht sein Blut tausendmal mehr erhitzt hatte, als die ewigen Flammen der Verdammnis in seinem Rücken es jemals getan hatten. Nie hätte er sie auf diese Weise ansehen dürfen, spätestens aber nach jenem ersten Mal hätte er fortan seinen Blick stets gesenkt halten sollen. Er war ein nichtswürdiger Sklave des Fürsten der Dunkelheit, eine Ausgeburt des Bösen; sie eine Göttin, ein Geschöpf des Lichts.
Er konnte sie nicht haben. Beim Gedanken daran ballte er unwillkürlich die Fäuste. Ganz egal, wie sehr er sich wünschen mochte, es wäre anders. Sie würde ihn ohnehin nicht wollen. Diese … Besessenheit führte zu nichts als Verzweiflung. Und davon hatte er bereits reichlich.
Und dennoch schaute er auch an diesem Tag zu, wie sie durch das triste Gewölbe schwebte, auf die zerklüftete Mauer zu, die den irdischen Untergrund vom Reich der Schatten trennte, und sie mit ihren zarten Fingerspitzen betastete. Goldene Locken fielen über ihren zierlichen Rücken und rahmten ein Gesicht ein, so makellos, so wunderschön, dass selbst Aphrodite daneben verblasst wäre. Ihre Augen, funkelnd wie Sterne, verengten sich skeptisch, auf den samtigen Alabasterwangen erschien ein rosiger Schimmer.
„Da ist ein Riss“, sagte sie, ihre sanfte Stimme wie eine elysische Melodie inmitten des Zischens der nahen Flammen – und der unmenschlichen Schreie, die das lodernde Feuer begleiteten.
Geryon schüttelte den Kopf, überzeugt, sich das gerade Geschehene nur eingebildet zu haben. In all der Zeit, die sie beide hier unten nun schon ihre Aufgabe erfüllten, jeder für sich, hatten sie niemals ein Wort gewechselt, waren kein einziges Mal von ihrer Routine abgewichen. Als Hüter des Tors zur Hölle sorgte Geryon dafür, dass es verschlossen blieb und sich nur öffnete, um neue verfluchte Seelen einzulassen. So war sichergestellt, dass nichts und niemand von dort wieder entkommen konnte – und wenn sie es dennoch versuchten, bekamen sie es mit ihm zu tun. Sie, die Göttin der Unterdrückung, verstärkte das Bollwerk allein mit ihrer Berührung. Nie zuvor war das Schweigen zwischen ihnen gebrochen worden.
Ihre ungewöhnlich angespannten Züge zeugten von Unsicherheit. „Hast du dazu gar nichts zu sagen?“
Im nächsten Augenblick stand sie direkt vor ihm, obwohl er auch nicht die kleinste Bewegung an ihr wahrgenommen hatte. Der allgegenwärtige Gestank, eine Mischung aus Schwefel, Qualm und versengtem Fleisch, wurde plötzlich vom süßen Duft von Geißblatt vertrieben. Tief atmete Geryon ein, die Augen verzückt geschlossen. Oh, hätte dieser Moment doch für immer andauern mögen.
„Torwächter“, drängte sie auf eine Antwort.
„Göttin.“ Er musste sich zwingen, die Lider zu öffnen, die Millimeter um Millimeter den Blick auf jene Schönheit enthüllten, die alles Dunkle und Hässliche hier unten überstrahlte. Aus unmittelbarer Nähe war sie nicht so perfekt, wie er erwartet hatte. Sie war sogar noch vollkommener. Vereinzelte Sommersprossen sprenkelten die dezent geschwungene Nase, und bei ihrem bezaubernden Lächeln zeigten sich kleine Grübchen auf den Wangen. Exquisit.
Was sie wohl über ihn dachte? Wahrscheinlich, dass er ein Ungeheuer war, unförmig und widerwärtig. Was der Wahrheit entsprach. Falls sie ihn tatsächlich so sah, ließ sie es sich allerdings nicht anmerken. In ihren glänzenden Augen lag nichts weiter als nachdenkliches Interesse. Welches, wie er vermutete, weniger ihm galt als der beschädigten Barriere. Selbst als er noch ein Mensch gewesen war, hatten Frauen einen großen Bogen um ihn gemacht und sofort die Flucht ergriffen, wenn er auch nur in ihre Richtung schaute. Er war zu groß, zu massig, zu ungeschickt. Und das schon bevor er in dieses oger-ähnliche Ding verwandelt worden war.
Manchmal fragte er sich, ob ihn bei seiner Geburt irgendjemand mit einem Fluch belegt hatte.
„Dieser Riss war gestern noch nicht da“, stellte sie fest. „Wodurch kann ein solcher Schaden entstanden sein? Und in so kurzer Zeit?“
„Eine Gruppe von Dämonen erhebt sich nunmehr täglich und versucht mit aller Macht, in die Freiheit zu entkommen. Die Hohen Herren sind ihrer Gefangenschaft überdrüssig geworden – und es verlangt sie nach lebendigen,
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