Der Idiot
vorlesen werde. Da kein Wort der Lüge darin stehen wird, sondern nur die lautere Wahrheit, die letzte, feierliche Wahrheit, so bin ich im voraus neugierig, welchen Eindruck sie auf mich selbst in der Stunde und Minute machen wird, wo ich sie vorlesen werde. Übrigens war es sinnlos, die Worte ›die letzte, feierliche Wahrheit‹ herzuschreiben; für zwei Wochen lohnt es sich sowieso nicht zu lügen, weil es sich auch nicht lohnt, zwei Wochen zu leben; das ist der beste Beweis dafür, daß ich nur die lautere Wahrheit schreiben werde. (NB. Ich muß mir folgenden Gedanken gegenwärtig halten: bin ich nicht etwa in diesem Augenblick, das heißt zeitweilig, verrückt? Man hat mir mit Bestimmtheit gesagt, daß Schwindsüchtige im letzten Stadium mitunter zeitweilig den Verstand verlieren. Ich will das morgen bei der Vorlesung mittels des Eindrucks auf die Zuhörer kontrollieren. Diese Frage muß jedenfalls zu völlig klarer Entscheidung gebracht werden; sonst kann ich zu keiner Tat schreiten.)
Mir scheint, ich habe hier soeben eine furchtbare Dummheit niedergeschrieben, aber zum Korrigieren habe ich, wie gesagt, keine Zeit; außerdem habe ich mir absichtlich vorgenommen, in dieser Handschrift auch nicht eine Zeile zu korrigieren, auch wenn ich selbst bemerken sollte, daß ich mir alle fünf Zeilen widerspreche. Ich will ja gerade morgen beim Vorlesen feststellen, ob mein Gedankengang logisch richtig ist, ob ich meine Fehler bemerke und ob somit alles das, was ich in diesem Zimmer im Laufe dieser sechs Monate mir in Gedanken zurechtgelegt habe, wahr oder nur Fieberphantasie ist.
Wenn ich vor zwei Monaten in die Lage gekommen wäre, wie jetzt, mein Zimmer ganz verlassen und von der Meyerschen Hausmauer Abschied nehmen zu müssen, so wäre ich (davon bin ich überzeugt) darüber traurig gewesen. Jetzt aber empfinde ich nichts, und doch verlasse ich morgen dieses Zimmer und diese Mauer für immer ! Also hat meine Überzeugung, daß es sich um zweier Wochen willen nicht mehr lohnt, Bedauern zu empfinden oder sich irgendwelchen derartigen Gefühlen zu überlassen, über meine Natur die Oberhand gewonnen und kann schon jetzt über alle meine Gefühle die Herrschaft ausüben. Aber ist es auch wirklich so? Ist es wahr, daß meine Natur jetzt ganz besiegt ist? Wenn man mich jetzt folterte, so würde ich sicher schreien und nicht sagen, es lohne sich nicht, zu schreien und Schmerz zu empfinden, da ich ja doch nur noch zwei Wochen zu leben habe.
Ist es aber auch wahr, daß ich nur noch zwei Wochen zu leben habe und nicht mehr? Damals in Pawlowsk habe ich gelogen: B-n hat nichts zu mir gesagt und mich nie gesehen, aber man hat vor etwa einer Woche einen Studenten namens Kislorodow zu mir geführt; was seine Anschauungen anlangt, ist er Materialist, Atheist und Nihilist; ebendeswegen hatte ich gerade ihn rufen lassen; ich wollte jemand haben, der mir endlich ohne freundliche Schonung und ohne alle Umstände die nackte Wahrheit sagte. Das tat er denn auch, und zwar nicht nur bereitwillig und ohne Umstände, sondern sogar mit sichtlichem Vergnügen (was meiner Ansicht nach nicht nötig gewesen wäre). Er sagte mir geradeheraus, ich hätte noch ungefähr einen Monat zu leben, vielleicht etwas mehr, wenn ich in günstige äußere Verhältnisse käme, möglicherweise aber würde ich auch weit früher sterben. Seiner Meinung nach könne ich auch ganz plötzlich sterben, zum Beispiel gleich am nächsten Tag: solche Fälle seien vorgekommen, erst zwei Tage vorher habe eine schwindsüchtige junge Dame in Kolomna, deren Zustand dem meinigen ähnlich gewesen sei, sich zurechtgemacht, um auf den Markt zu gehen und Lebensmittel einzukaufen, sich aber plötzlich unwohl gefühlt, sich auf das Sofa gelegt, einen Seufzer ausgestoßen und sei gestorben. Als Kislorodow mir dies alles mitteilte, machte er den Eindruck, als renommiere er ein bißchen mit seiner Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit und als glaube er, mir eine besondere Ehre zu erweisen, indem er mir nämlich dadurch zeige, daß er auch mich für ein ebensolches alles negierendes höheres Wesen halte, wie er selbst eines sei, für ein Wesen, dem es selbstverständlich nichts ausmache, zu sterben. Aber am Ende blieb doch wie eingerahmt die Tatsache: einen Monat und nicht ein bißchen mehr. Daß er sich nicht irrte, davon war ich überzeugt.
Es hat mich sehr gewundert, wieso der Fürst vorhin erraten hat, daß ich ›böse Träume‹ habe; er sagte wörtlich, ›meine Aufregung und
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