Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
Vom Netzwerk:
würden auf einmal die Arme ausbreiten und mich an ihr Herz drücken und mich wegen irgend etwas um Verzeihung bitten und ich meinerseits sie ebenfalls; kurz, ich war zu guter Letzt ein unfähiger Dummkopf. Und siehe da, in diesen Stunden flammte in mir ›die letzte Überzeugung‹ auf. Ich wundere mich jetzt, wie ich ganze sechs Monate lang ohne diese ›Überzeugung‹ habe leben können! Ich wußte positiv, daß ich die Schwindsucht hatte und diese Krankheit bei mir unheilbar war; ich täuschte mich nicht und begriff die Sachlage klar. Aber je klarer ich sie begriff, um so krampfhafter begehrte ich zu leben; ich klammerte mich an das Leben; leben wollte ich, leben um jeden Preis. Ich gebe zu, daß ich damals dem dunklen, unerbittlichen Schicksal zürnte, das beschlossen hatte, mich wie eine Fliege totzuschlagen, ohne selbst zu wissen warum; aber warum habe ich mich nicht bis zum Schluß damit begnügt, lediglich zu zürnen? Warum habe ich tatsächlich angefangen zu leben, obwohl ich wußte, daß ich nicht mehr anfangen konnte? Warum habe ich es versucht, obwohl ich wußte, daß dazu keine Zeit mehr war? Dabei war ich aber nicht einmal imstande, ein Buch zu lesen, und hörte zu lesen auf: wozu sollte ich lesen, wozu noch Kenntnisse für sechs Monate erwerben? Dieser Gedanke brachte mich wiederholt dazu, ein Buch beiseite zu werfen.
    Ja, diese Meyersche Mauer kann vieles erzählen! Vieles habe ich in Gedanken auf sie geschrieben. Es gab keinen Fleck auf dieser schmutzigen Mauer, den ich nicht auswendig gewußt hätte. Verfluchte Mauer! Und doch ist sie mir teurer als alle Bäume in Pawlowsk, das heißt, sie sollte mir teurer sein als all diese Bäume, wenn mir nicht jetzt alles gleichgültig wäre.
    Ich erinnere mich jetzt, mit welchem gierigen Interesse ich damals anfing, das Leben jener zu verfolgen: ein solches Interesse war mir früher fremd gewesen. Ungeduldig und schimpfend wartete ich manchmal auf Kolja, wenn ich selbst so krank war, daß ich das Zimmer nicht verlassen konnte. Ich erkundigte mich so genau nach allen Kleinigkeiten und interessierte mich so für alle möglichen Gerüchte, daß ich geradezu ein Klatschmaul wurde. Ich konnte zum Beispiel nicht begreifen, wie diese Menschen, die ein so langes Leben zur Verfügung haben, es nicht verstehen, reich zu werden (übrigens begreife ich es auch jetzt nicht). Ich kannte einen armen Kerl, von dem man mir später erzählte, er sei Hungers gestorben, und ich erinnere mich, daß mich dies ganz aus der Fassung brachte: hätte man diesen armen Menschen ins Leben zurückrufen können, so hätte ich ihn, glaube ich, hinrichten lassen. Es ging mir manchmal ganze Wochen lang besser, und ich konnte auf die Straße gehen; aber was ich auf der Straße sah, versetzte mich in eine so ärgerliche Stimmung, daß ich ganze Tage lang absichtlich im verschlossenen Zimmer saß, obgleich ich wie alle Leute hätte ausgehen können. Ich konnte dieses hin und her rennende, hastende, immer sorgenvolle, mürrische, aufgeregte Volk nicht vertragen, das auf dem Gehsteig um mich herumwimmelte. Wozu ihre ewige Traurigkeit, Unruhe und Geschäftigkeit, ihre ewige mürrische Bosheit (denn sie sind boshaft, boshaft, boshaft). Wer ist schuld daran, daß sie unglücklich sind und nicht zu leben verstehen, obwohl jeder von ihnen sechzig Lebensjahre vor sich hat? Warum hat Sarnizyn es dahin kommen lassen, daß er Hungers starb, obgleich er sechzig Jahre vor sich hatte? Und jeder weist auf seine abgetragene Kleidung hin und auf seine zerarbeiteten Hände und ist böse und schreit: ›Wir arbeiten wie die Ochsen und quälen uns, aber wir sind hungrig wie die Hunde und arm! Andere arbeiten nicht und quälen sich nicht und sind reich!‹ (Das ist der ewige Refrain!) Und mit ihnen zugleich läuft so ein unglücklicher Jammermensch ›aus besserer Familie‹ herum und rackert sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend ab; ich denke an Iwan Fomitsch Surikow, der in unserm Haus über uns wohnt; er hat immer zerrissene Ellbogen und durchgeriebene Knöpfe und macht für allerlei Leute Gänge und übernimmt Aufträge vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Läßt man sich mit ihm in ein Gespräch ein, dann bekommt man zu hören: ›Ich bin arm, geradezu ein Bettler, meine Frau ist mir gestorben, ich hatte kein Geld, um ihr Medizin zu kaufen, und im Winter ist mir ein kleines Kind erfroren; meine älteste Tochter lebt als Mätresse...‹ So jammert und weint er fortwährend! Oh, ich habe kein

Weitere Kostenlose Bücher