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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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sich auf den Tisch.
    Dieser unerwartete Vorgang übte auf die angeheiterte Gesellschaft, die vorbereitet war, aber nicht darauf, eine starke Wirkung aus. Jewgenij Pawlowitsch sprang sogar von seinem Stuhl auf; Ganja kam schnell an den Tisch heran, Rogoshin ebenfalls, aber mit mürrischer, ärgerlicher Miene, als wüßte er, um was es sich handle. Lebedew, der sich zufällig gerade in der Nähe befand, trat mit neugierigen Augen heran und schaute nach dem Kuvert, bemüht, dessen Inhalt zu erraten.
    »Was haben Sie denn da?« fragte der Fürst beunruhigt.
    »Sowie der Rand der Sonnenscheibe sichtbar wird, werde ich mich hinlegen, Fürst, ich habe es gesagt; mein Ehrenwort darauf! Sie werden es sehen!« rief Ippolit. »Aber... aber... glauben Sie wirklich, ich wäre nicht imstande, dieses Kuvert zu erbrechen?« fügte er hinzu, indem er in herausfordernder Weise alle Umstehenden der Reihe nach anschaute und sich an alle ohne Unterschied wandte.
    Der Fürst bemerkte, daß er am ganzen Leibe zitterte.
    »Niemand von uns glaubt das«, antwortete der Fürst für alle. »Warum meinen Sie denn, daß jemand so etwas denkt, und was... was ist das für ein seltsamer Einfall von Ihnen, etwas vorlesen zu wollen? Was haben Sie denn da, Ippolit?«
    »Was ist denn los? Was ist denn wieder mit ihm passiert?« wurde von allen Seiten gefragt.
    Alle traten heran, manche noch essend; das Kuvert mit dem roten Siegel übte auf alle eine Anziehungskraft aus wie ein Magnet.
    »Das habe ich gestern selbst geschrieben, gleich nachdem ich versprochen hatte, zu Ihnen zu ziehen und bei Ihnen zu wohnen, Fürst. Ich habe gestern den ganzen Tag daran geschrieben und dann die ganze Nacht und bin heute morgen damit fertig geworden; in der Nacht, gegen Morgen, hatte ich einen Traum ...«
    »Wäre es nicht besser, es bis morgen zu lassen?« unterbrach ihn der Fürst schüchtern.
    »Morgen wird ›keine Zeit mehr sein‹«, erwiderte Ippolit mit einem krampfhaften Lächeln. »Beunruhigen Sie sich übrigens nicht, das Vorlesen wird nur vierzig Minuten dauern, na – oder eine Stunde... Und sehen Sie nur, wie sich alle dafür interessieren; alle sind sie hergekommen; alle sehen sie mein Siegel an; hätte ich das Schriftstück nicht in ein Kuvert verpackt und versiegelt, so hätte ich gar keinen Effekt damit gemacht! Haha! Da sieht man, was die Geheimniskrämerei für eine Bedeutung hat! Soll ich das Kuvert aufbrechen, meine Herren, oder nicht?« rief er mit seinem seltsamen Lachen und mit blitzenden Augen. »Ein Geheimnis, ein Geheimnis! Erinnern Sie sich wohl, Fürst, wer das gesagt hat, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein soll‹? Das sagt der starke, mächtige Engel in der Apokalypse.«
    »Es ist das beste, die Vorlesung unterbleibt!« rief auf einmal Jewgenij Pawlowitsch, aber sein Gesicht wies dabei eine an ihm so ungewöhnliche Unruhe auf, daß es vielen sonderbar erschien.
    »Lesen Sie nicht!« rief auch der Fürst und legte die Hand auf das Kuvert.
    »Wozu jetzt eine Vorlesung? Jetzt ist der Imbiß an der Reihe«, bemerkte jemand.
    »Es ist wohl ein Artikel für eine Zeitschrift?« erkundigte sich ein anderer.
    »Vielleicht ist es langweilig«, fügte ein dritter hinzu.
    »Aber was ist es denn eigentlich?« fragten die übrigen. Durch die ängstliche Handbewegung des Fürsten schien jedoch auch Ippolit bedenklich geworden zu sein.
    »Also... soll ich es nicht vorlesen?« flüsterte er ihm zaghaft zu, und ein schiefes Lächeln spielte um seine bläulichen Lippen. »Nicht vorlesen?« murmelte er, indem er seinen Blick über das ganze Publikum, über alle Augen und Gesichter hingleiten ließ, als wollte er sich wieder mit der gleichen, sozusagen anstürmenden Expansivität an alle klammern. »Sie ... fürchten sich?« sagte er, wieder zu dem Fürsten gewandt.
    »Wovor sollte ich mich fürchten?« fragte dieser, während sein Gesichtsausdruck sich immer mehr veränderte.
    »Hat jemand ein Zwanzigkopekenstück?« rief Ippolit und sprang von seinem Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte. »Oder irgendeine andere Münze?«
    »Hier!« sagte Lebedew, ihm schnell eine Münze hinreichend. Ihm huschte der Gedanke durch den Kopf, ob der kranke Ippolit nicht vielleicht irrsinnig geworden sei.
    »Wera Lukjanowna!« rief Ippolit eilig. »Bitte, nehmen Sie die Münze und werfen Sie sie auf den Tisch: Adler oder Schrift? Wenn der Adler oben liegt, will ich es vorlesen!«
    Wera blickte erschrocken erst das Geldstück, dann Ippolit, darauf ihren

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