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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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gewaltige Massen des eigentlichen Volkes auf zu glauben, vormals aus Unwissenheit und Unwahrhaftigkeit, aber jetzt schon aus Fanatismus und aus Haß gegen die Kirche und gegen das Christentum.«
    Der Fürst hielt inne, um Atem zu schöpfen. Er hatte furchtbar schnell gesprochen. Er war blaß und rang nach Luft. Alle wechselten Blicke miteinander; aber endlich begann der Alte ganz offen zu lachen. Fürst N. nahm seine Lorgnette heraus und betrachtete den Fürsten unablässig. Der deutsche Dichter kam aus seiner Ecke hervorgekrochen und näherte sich mit einem unangenehmen Lächeln dem Tisch.
    »Sie ü-ber-trei-ben sehr«, sagte Iwan Petrowitsch, dieses Wort in die Länge ziehend, in etwas gelangweiltem Ton; es klang sogar so, als ob ihm etwas unangenehm wäre, »auch in der dortigen Kirche gibt es höchst achtenswerte, tu-gend-hafte Vertreter...«
    »Ich habe nie von einzelnen Vertretern der Kirche gesprochen. Ich rede von dem, was das Wesen des römischen Katholizismus ausmacht, ich rede von Rom. Kann denn eine Kirche vollständig verschwinden? Ich habe das nie gesagt!«
    »Einverstanden, aber all das ist bekannt und braucht daher nicht gesagt zu werden, und... es gehört zur Theologie...«
    »O nein, o nein! Nicht nur zur Theologie, ich versichere Sie, nein! Das geht uns weit mehr an, als Sie meinen. Gerade darin besteht unser ganzer Irrtum, daß wir noch nicht einsehen können, daß das nicht ausschließlich nur eine theologische Angelegenheit ist! Auch der Sozialismus ist ja eine Ausgeburt des Katholizismus und des katholischen Wesens! Auch er ist, ebenso wie sein Bruder, der Atheismus, aus der Verzweiflung hervorgegangen, als Gegensatz zum Katholizismus im moralischen Sinne, um einen Ersatz für die verlorengegangene moralische Macht der Religion zu bilden, um den geistigen Durst der lechzenden Menschheit zu stillen und sie zu retten, nicht durch Christus, sondern ebenfalls durch Gewalt! Das ist ebenfalls eine Freiheit durch Gewalt, das ist ebenfalls eine Vereinigung durch Schwert und Blut! ›Erdreiste dich nicht, an Gott zu glauben, erdreiste dich nicht, Eigentum zu besitzen, erdreiste dich nicht, eine Persönlichkeit zu haben, fraternité ou la mort. zwei Millionen Köpfe!‹ An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, heißt es in der Schrift. Und glauben Sie nicht, daß das alles so harmlos und für uns ungefährlich wäre; o nein, wir müssen Widerstand leisten, und auf das schnellste, auf das schnellste! Unser Christus muß als Schild dem Westen entgegenstrahlen, unser Christus, den wir uns bewahrt und den sie nicht gekannt haben! Wir dürfen uns nicht sklavisch von den Jesuiten angeln lassen, sondern müssen ihnen jetzt entgegentreten, indem wir ihnen unsere russische Zivilisation bringen, und man darf bei uns nicht sagen, daß ihre Predigt elegant sei, wie sich soeben jemand geäußert hat...«
    »Aber erlauben Sie, erlauben Sie«, unterbrach ihn Iwan Petrowitsch, der sich unruhig umblickte und sogar ordentlich Angst bekam, »alle Gedanken, die Sie da vortragen, sind ja gewiß sehr löblich und patriotisch, aber es ist doch alles in höchstem Grade übertrieben, und... es wäre das beste, wenn wir dieses Gespräch abbrächen...«
    »Nein, übertrieben ist es nicht, eher zu schwach ausgedrückt, ja, zu schwach ausgedrückt, weil ich nicht imstande bin, die richtigen Worte zu finden, aber...«
    »Er-lau-ben Sie!«
    Der Fürst schwieg. Er saß, gerade aufgerichtet, auf seinem Stuhl und blickte, ohne sich zu regen, Iwan Petrowitsch mit flammendem Blick an.
    »Mir scheint, daß der Vorfall mit Ihrem Wohltäter Sie gar zu sehr beeindruckt hat«, bemerkte der Alte freundlich und ohne seine Ruhe zu verlieren. »Sie sind etwas hitzig... vielleicht infolge Ihres einsamen Lebens. Wenn Sie mehr unter Menschen lebten – und ich hoffe, daß man sich in der guten Gesellschaft über Sie als über einen beachtenswerten jungen Mann freuen wird –, so wird sich Ihre Lebhaftigkeit gewiß mildern, und Sie werden sehen, daß das alles weit einfacher ist... und zudem gehen solche seltenen Fälle meiner Ansicht nach teils aus unserer Übersättigung hervor, teils aus... einem inneren Unfrieden.«
    »Ganz richtig, ganz richtig!« rief der Fürst. »Ein vortrefflicher Gedanke! Jawohl, aus einem inneren Unfrieden, aus unserem inneren Unfrieden! Nicht aus Übersättigung, sondern im Gegenteil aus Durst... nicht aus Übersättigung, darin haben Sie sich geirrt! Aus Durst ist noch zuwenig gesagt: aus brennendem, fieberhaftem Durst!

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