Der illustrierte Mann
Mondlicht aus. Es war eine warme Nacht. Kein Windhauch regte sich, und die Luft war drückend. Auch ich hatte mein Hemd ausgezogen.
»Und Sie haben die Alte tatsächlich nie wiedergesehen?«
»Nie.«
»Und Sie sind überzeugt, daß sie aus der Zukunft kam?«
»Wie sonst hätte sie diese Geschichten kennen können, die sie mir auf den Leib gemalt hat?«
Ermüdet schloß er die Augen. Seine Stimme wurde leiser. »Manchmal, nachts, fühle ich sie – die Bilder; wie Ameisen, die über meine Haut krabbeln. Ich weiß dann, daß sie tun, was sie tun müssen. Ich sehe überhaupt nicht mehr hin. Ich versuche nur zu ruhen. Ich schlafe nicht viel. Sehen Sie auch nicht hin, ich warne Sie. Drehn Sie sich nach der andern Seite, wenn Sie schlafen.«
Ich legte mich etwa einen Meter entfernt von ihm hin. Er schien mir nicht bösartig zu sein, und die Bilder waren wunderbar. Andernfalls hätte ich mich vielleicht versucht gefühlt, vor so einem Schwätzer das Weite zu suchen. Aber diese Illustrationen ... meine Augen schwelgten förmlich darin.
Die Nacht war ruhig. Unter dem Licht des Mondes konnte ich die Atemzüge des illustrierten Mannes hören. Grillen zirpten leise zwischen den fernen Hügelketten. Ich hatte mich auf die Seite gelegt, so daß ich die Illustrationen beobachten konnte. Vielleicht eine halbe Stunde verstrich. Ob der illustrierte Mann schlief oder nicht, konnte ich nicht sagen; doch plötzlich hörte ich ihn flüstern: »Sie bewegen sich, nicht wahr?«
Ich wartete eine Minute.
Dann antwortete ich: »Ja.«
Die Bilder bewegten sich, eins nach dem andern, jedes für ein oder zwei kurze Augenblicke. Hier im Mondlicht, mit leise anklingenden Gedanken und dem fernen Murmeln der Seen, schien jedes ein kleines Drama aufzuführen. Ob es nun eine, zwei oder drei Stunden dauerte, bis alle durchgespielt waren, könnte ich nur schwer sagen. Ich weiß nur, daß ich völlig fasziniert dalag und mich nicht regte, während die Sterne durch den Himmel kreisten.
Sechzehn Illustrationen, sechzehn Erzählungen. Ich zählte sie, eine nach der andern.
Die erste Szene, die meinen Blick bannte, war ein großes Haus mit zwei Leuten darin. Ich sah eine Kette von Aasgeiern durch einen brennenden, fleischfarbenen Himmel fliegen, ich sah Löwen, und ich hörte Stimmen.
Die erste Illustration begann zu leben ...
Das Kinderzimmer
»George, ich möchte gern, daß du dir mal das Kinderzimmer ansiehst.«
»Stimmt etwas nicht damit?«
»Ich weiß nicht.«
»Na also.«
»Ich möchte nur, daß du es dir einmal ansiehst, das ist alles – oder einen Psychologen zuziehst, damit der es prüft.«
»Was sollte wohl ein Psychologe mit einem Kinderzimmer anfangen?«
»Du weißt sehr gut, daß er etwas tun kann.« Seine Frau blieb in der Mitte der Küche stehen und blickte zum Herd hinüber, der geschäftig summend selbsttätig das Abendessen für vier Personen zubereitete.
»Ich meine nur, das Kinderzimmer ist jetzt einfach ganz anders als früher.«
»Also gut, laß uns einen Blick hineinwerfen.«
Sie gingen den Korridor ihres schalldichten ›Lebensglück-Hauses‹ hinunter, das sie, fertig eingerichtet, dreißigtausend Dollar gekostet hatte, dieses Haus, das sie ankleidete und fütterte, sie in den Schlaf wiegte und sang und gut zu ihnen war. Ihre Annäherung ließ irgendwo einen Kontakt ansprechen, und das Licht im Kinderzimmer ging an, als sie noch etwa drei Meter davor waren. Auf ähnliche Weise hatte während ihres Ganges durch die Korridore eine lautlose Automatik die Lampen vor und hinter ihnen an- und ausgeschaltet.
»Nun«, sagte George Hadley.
Sie standen auf dem mit Strohmatten ausgelegten Fußboden des Kinderzimmers. Es war etwa zwölf mal zwölf Meter groß und neun Meter hoch; es hatte noch einmal halb so viel gekostet wie das ganze übrige Haus. Aber »nichts ist zu gut für unsere Kinder«, hatte George gesagt.
Das Kinderzimmer war stumm. Es war leer wie eine Lichtung im Dschungel an einem heißen Mittag. Die Wände waren massiv und zweidimensional. Doch jetzt, während George und Lydia Hadley in der Mitte des Raumes standen, begannen die Wände zu surren und sich scheinbar in kristallklare Weite aufzulösen, und langsam erschien vor ihren Augen eine afrikanische Steppe, dreidimensional nach allen Seiten, farbig und vollkommen natürlich bis zum letzten Kieselstein und Grashalm. Die Decke über ihnen wurde zu einem unendlichen Himmel mit einer heißen gelben Sonne.
George Hadley fühlte den Schweiß auf
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