Der im Dunkeln wacht - Roman
kühler.
»Halb fünf. Wolltest du nicht heute noch nach Värmland fahren? «, fragte Tommy.
»Doch. Krister ist schon dort.«
»Dann mach Feierabend. Wir kümmern uns um alles Weitere. Du hast schließlich die ganze Woche hart gearbeitet und unendlich viele Überstunden gemacht.«
Sie widersprach mehr der Form halber, aber die Proteste überzeugten nicht einmal sie selbst. Es war unbedingt ratsam, einige der dreihundert Kilometer bei Tageslicht zurückzulegen.
B evor Irene das Reihenhaus verließ, ging sie ins Badezimmer. Methodisch zerriss sie die beiden Fotos, die sie heimlich aus der Garage mitgenommen hatte, und spülte sie in der Toilette hinunter. Niemand sollte sie je zu Gesicht bekommen, am allerwenigsten Tommy. Es war auch so schon alles schlimm genug.
Sie hatte ihre Tasche vorsichtshalber schon am Vorabend gepackt. Ein Glas Milch und eine Banane mussten erst mal genügen, um den Blutzuckergehalt zu erhöhen. Sie hatte vor, im Riks Rasta in Brålanda eine Kaffeepause einzulegen. Wenn sie in Sunne eintraf, wartete Krister sicher bereits mit einem wunderbaren Essen. Vielleicht eine cremige Pfifferlingsuppe mit frischem Thymian als Vorspeise und Wild als Hauptgang. Auf Rehrücken in Rotweinsauce mit einem Kartoffelgratin, das nach Knoblauch und Porree duftete, hatte sie jetzt Lust. Kristers Schulfreund Per-Erik pflegte in der Gegend von Sunne zu jagen und tauchte gelegentlich mit einem Reh-, Hasen oder Elchbraten auf. Dass es etwas mit Pilzen geben würde, davon war sie überzeugt. Krister liebte es, Pilze zu sammeln. Dieses Interesse schien er außerdem mit Egon zu teilen. Egon ließ sich sicher als Pfifferlingshund abrichten. Aber Dackel waren eigentlich Jagdhunde. Ob er wohl einen Dachs aus seinem Bau jagen konnte? Wohl kaum, das liegt ihm bestimmt nicht, dachte Irene.
Es dämmerte, als Irene Åmål passierte. Die Kaffeepause hatte ihr gutgetan, und zum ersten Mal seit Wochen hatte sie richtig gute Laune. Sie griff zu ihrem Handy, um Krister mitzuteilen, wo sie war. Sie hörte nicht einmal ein Freizeichen. Das Handy
war tot. Irene fluchte, als ihr aufging, dass sie vergessen hatte, den Akku aufzuladen. Der Autoadapter lag natürlich in Kristers Auto. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie im Riks Rasta von einer Zelle aus telefoniert. Es war jedoch immer ein Problem, im Sommerhaus anzurufen. Empfang hatte man nämlich nur in dem einen Schlafzimmer im Obergeschoss Richtung Osten. Jahrelang hatten sie diskutiert, eine Telefonleitung legen zu lassen, hatten das aber immer vor sich hergeschoben, da es einfach zu teuer war. Elektrizität und einen Brunnen haben wir jedenfalls, dachte Irene zufrieden. Eine Toilette mit elektrischer Abwasserpumpe gab es neuerdings auch. Nichts gegen das alte Trockenklosett, aber etwas eklig war es dann doch manchmal gewesen.
Als sie Kil passiert hatte, war es bereits dunkel. Auf der E 45 herrschte immer noch reger Verkehr, aber man merkte, dass er langsam nachließ. Freitagabend, das schwedische Volk würde den Superstar-Sieger küren, oder was sich auch immer hinter den erleuchteten Fenstern, an denen sie vorüberfuhr, gerade tat. Sie sehnte sich nach Krister. Und nach Egon natürlich. Und nach einem guten Essen und einer Tasse Kaffee vor dem offenen Kamin. Dann zeitig ins Bett …
Etliche Kilometer später fuhr sie an Sunne vorbei. Linkerhand lag das Hotel Selma SPA. Die spitzen Dächer erinnerten in der Dunkelheit an ein beleuchtetes Alpendorf. Alle Zimmer besaßen Aussicht auf den Fryken. Gerade an diesem Abend war der Blick aber vermutlich nicht so umwerfend, da sich Mond und Sterne hinter schwarzen Wolken verbargen. Das Wasser des Sees war schwarz und spiegelblank. Rechterhand ließ sich das Hotel Selma Lagerlöf ausmachen, das herrschaftliche Hotel mit Stil. Die Kavaliere aus dem Roman »Gösta Berling« hätten sich dort vermutlich mehr zu Hause gefühlt als in dem ultramodernen SPA-Hotel.
Jetzt waren kaum noch Autos auf der Straße. Auf der Gegenfahrbahn
tauchten die Fahrzeuge im Abstand von mehreren Minuten auf. Seit der Abfahrt nach Grums hatte sie einen Wagen hinter sich. Sie wusste, dass es immer noch derselbe war, weil der rechte Scheinwerfer etwas schwächer leuchtete und manchmal aussetzte. Wackelkontakt, dachte Irene. Vielleicht jemand, der von Karlstad nach Torsby pendelt. Sie kannte mehrere Leute, die diese 110 Kilometer jeden Tag hin und zurück fuhren. Einige benutzten aber auch die Eisenbahn. Die Strecke galt als die schönste
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