Der Jakobsweg
1 Von Deutschland nach Frankreich
Der Küster kommt gegen sieben Uhr morgens. Er betritt polternd die Kirche, stellt sich in die Mitte der Haupthalle und stößt plötzlich in alle vier Ecken Schreie aus. Ich sitze oben auf der Empore, unter der Orgel, und erschrecke sehr, glaube ich doch, daß er damit seinen Ärger über mein Eindringen in die Kirche kundtut. Was würde er als nächstes machen, nachdem er bereits so gewaltig gestampft und gebrüllt hat? Mich die Treppe hinabstoßen, an den Haaren zur Kirchentür zerren und hinauswerfen? Doch welche Überraschung, der Mann schaut überhaupt nicht zu mir herauf. Er geht zum Altar, kniet nieder und betet. Offenbar hat er andere ungebetene Gäste mit seinem Schreiritual vertreiben wollen. Trotzdem fühle ich mich sehr unbehaglich. Nach dem Gebet hat der Küster vielerlei zu tun. Ich warte und warte, zuerst geduldig, dann immer dringlicher, denn meine Blase drückt unangenehm, und auch im Bauch rumort es mächtig. Der Mann ist nun in einem Nebenraum, aber ich höre ihn deutlich herumwirtschaften, und sicher würde er mich auch hören, wenn ich die knarrende Holztreppe hinabsteige. Doch ich muß raus! Der Küster ist mir nun gänzlich egal. Ich setze den Rucksack auf und - da hat er mich schon bemerkt. Flink hastet der alte Mann die schmale Treppe empor. Schon steht er vor mir, ein hagerer, leicht gebeugter Mann mit grauen Schläfen und buschigen, schwarzen Augenbrauen, unter denen mich seine dunklen Augen unwirsch mustern. Ein Schwall französischer Worte prasselt auf mich nieder. Wahrscheinlich glaubt er, ich sei eine Streunerin, die die Kirche verunreinige. Ich kann nur drei Wörter auf französisch: merci, merde, je t'aime, aber damit werde ich mich wohl kaum verständlich machen können.
»Yo voy a Santiago de Compostela. Soy una peregrina. Ich gehe nach Santiago de Compostela. Ich bin eine Pilgerin«, sage ich auf spanisch, das ich ganz gut beherrsche, in der Hoffnung, er werde wegen der Verwandtschaft der beiden Sprachen wenigstens den Sinn verstehen. Und dann zähle ich ihm die Hauptstationen meiner Reise auf: »St.-Jean-Pied-de-Port, Roncesvalles, Pamplona, Logroño, Burgos, Frómista, León, Astorga, El Cebreiro, Samos, Puertomarin«, und nach tiefem Durchatmen und mit meinem strahlendsten Lächeln: »Santiago de Compostela!« Er schaut mich verblüfft an, zuerst ratlos, doch dann huscht ein Verstehen über das strenge Gesicht. Er tritt zur Seite, gibt mir den Weg nach unten frei und - habe ich mich getäuscht oder hat er sich sogar leicht verbeugt vor einer Pilgerin, die allein zu Fuß nach Santiago de Compostela wandert, wie in früherer Zeit Millionen Menschen aus ganz Europa?
Damals im Mittelalter sind die Pilger von ihrer Haustür aus losgelaufen. Sie mußten, wenn sie unterwegs nicht umgekommen waren und endlich das langersehnte Ziel erreicht hatten, auch wieder zu Fuß heimwärts gehen. Ich stelle mir vor, daß dieser Rückweg auf schon bekanntem Pfad sehr mühselig und langweilig gewesen sein muß. Wahrscheinlich aber irre ich mich, denn die meisten Menschen sind vermutlich gerne wieder heimgekehrt. Mir fällt das Weggehen leicht, es ist mit Freude und Erwartungen verbunden. Immer ist es ein Aufbruch in eine ungewisse und deswegen aufregende Zukunft, für die es sich lohnt zu leben. Die Rückkehr dagegen erscheint mir jedesmal so grau und unerquicklich, daß ich mich fragen muß, warum ich überhaupt heimfahre. Und ich habe dann keine andere Antwort parat als diese: Damit ich wieder losgehen kann.
Die Menschen damals aber wagten eine Pilgerreise, die im Zeichen des Todes stand. Zu unsicher war in dieser Zeit das Reisen. Überall am Weg lauerten Gefahren. Viele kamen durch Entkräftung, Kälte und Schneestürme um. Andere wurden von Räubern getötet. Manche wurden Opfer von Seuchen und verdorbener Nahrung. Alte Gerichtsurteile zeigen, daß ein Menschenleben wenig galt. Wurde einer des Diebstahls überführt oder auch nur dringend verdächtigt, landete er unweigerlich am Galgen. Welcher Mut, welche Mühe und Entsagung gehörten dazu, sich auf den Weg nach Santiago zu machen? Ich nehme an, daß diese Menschen das alles auf sich nehmen konnten, weil sie einen starken Halt in sich trugen, nämlich ihren Glauben. Der Glaube war gleichzeitig die Triebfeder für ihre Entscheidung, das »Jakobsgrab« aufzusuchen, sei es um Buße für eine schwere Sünde zu tun oder um Hilfe gegen Krankheit und Leiden zu erflehen. Andere hatten in einer schwierigen
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