Der Jakobsweg
ein Meter, jetzt nur noch ein halber! Langsam nähern sich meine geöffneten Hände der Maus. Es ist doch gar zu verlockend, das Tierchen mit einem schnellen Zugriff zu fangen. Ich will es jedoch nicht zu sehr erschrecken oder ihm gar weh tun. Doch ich brauche überhaupt nicht zuzugreifen. Die junge Maus ist so zutraulich und wohl auch unerfahren, daß sie von selbst in meine Hände hüpft. Da sitzt sie nun — kann man sich so etwas vorstellen — und leckt und putzt und säubert ihr Fellchen. Die kleinen rosa Vorderpfoten striegeln eifrig das Köpfchen, blitzschnell fahren sie über die fast ganz im dichten Fell verborgenen Ohren und klappen die winzigen Ohrmuscheln emsig hin und her. Die Maus hat einen dicken Kopf, er ist halb so groß wie der rundliche, rötlichbraune Körper. Es ist ein wunderbares Gefühl, wie sich dieses kleine Wesen vertrauensvoll in die Hand kuschelt. Belustigt denke ich, ob das gar eines der vom heiligen Jakob bewirkten Wunder ist? Eine wildlebende Maus, die geradewegs in meine Hand springt und sich dort auch noch wie zu Hause fühlt, wer hat das schon mal erlebt? Mit beiden Händen forme ich für die junge Maus ein schützendes Gehäuse, wie eine Muschel. Ich fühle mich sehr verführt, das kleine Tierchen als Maskottchen auf meine Wanderung mitzunehmen. Aber ich weiß, daß sie das nicht überleben würde und so bin ich vernünftig. Langsam, zögernd setze ich die Rötelmaus an den Straßenrand zurück. Und ich merke, wie sie sich kaum entschließen kann, wieder in die Freiheit zu gehen. Offenbar hat sie sich in der warmen Menschenhand geborgen gefühlt. Nun geht es aufwärts, den Pyrenäen entgegen. Eine abwechslungsreiche Wegstrecke führt mich zunächst einen Hang hinauf und ich komme an Zäunen mit dichten Brombeerhecken vorbei, hinter denen sich vereinzelt Bauernhäuser und Gärten verstecken. An einer Wegbiegung schaue ich nach unten, zurück auf den schon gegangenen Weg und sehe zwei Wanderer mit knallroten Rucksäcken und bunter Wanderkleidung. Wenn sie auch über den Paß wollen, ist es bald vorbei mit dem schönen Gefühl, hier allein zu sein, befürchte ich. Der Mann holt mit zügigen Schritten schnell auf, seine Begleiterin hinkt hinterher, obwohl sie den kleineren Rucksack trägt. Wieder die übliche Konstellation eines Paares, denke ich. Und ich habe gar keine Lust, ihnen zu begegnen und meine einsame, ruhige Besinnlichkeit von ihnen stören zu lassen. Doch der Mann hat mich schnell entdeckt und ruft auf deutsch laut zu mir herauf: »Hallo, Sie da! Warten Sie mal!« Nur unwillig bleibe ich stehen. Aber schon bald korrigiere ich meine Vorurteile. Denn durch bloße Äußerlichkeiten wie teure und überbunte Wanderausrüstung hatte ich mich zu einem vorschnellen Urteil verführen lassen. Jetzt erfahre ich von ihnen, warum sie mich so dringend sprechen wollten. Sie hatten unterwegs einen belichteten Film gefunden und wollten sich vergewissern, ob ich ihn vielleicht verloren hätte. Während wir zusammen weitergehen, erzählen sie mir, daß er Ingenieur und sie Lehrerin ist. Schon seit Jahren wandern sie jeden Urlaub und schlafen sogar im Zelt. Gestern dann, nach 25 Tage langer Wanderung durch Frankreich, hatten sie wegen des Regens zum ersten Mal in einer Auberge übernachtet. In weiteren 27 Tagen wollen sie ihr Ziel Santiago erreichen. Das wäre eine recht beachtliche Leistung, denke ich, will mir selbst aber viel mehr Zeit nehmen, denn ich möchte den Weg erfahren, erleben, begreifen, ihn ganz in mich aufnehmen. Deshalb erkläre ich den beiden, daß ich gern allein wandern würde, und gebe ihnen einen großen Vorsprung. Die Wartezeit nutze ich an einem kleinen Bachlauf, der hier dem Berghang entspringt, um meine Morgenwäsche nachzuholen und stille meinen Hunger mit der mitgebrachten Verpflegung. An solchen Stellen werden auch die Pilger des Mittelalters gerastet haben. Wasser, Brot und ein Stück Käse dienten ihnen als Wegzehrung. Damals zog man noch nicht mit prallen Rucksäcken durch die Gegend. Ein kleines Bündel, über die Schulter geworfen, eine Kalebasse für das Trinkwasser, mehr brauchte man nicht. Kleidung zum Wechseln? War es möglich, wurde sie gewaschen, während man nackt in der Sonne saß und wartete, bis die Wäsche trocken war. Wie unkompliziert und anspruchslos die Menschen in Europa bis vor kurzem noch waren! Von vielen Skulpturen, Reliefs, Fresken, Radierungen und Holzschnitten, die Pilgerszenen zeigen, wissen wir, wie man sich für die Pilgerschaft
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