Der Jünger
…”
“Nein.”
“Ich habe noch nie gesehen, wie jemandem das Blut so schnell aus dem Gesicht weicht. Er ist nach vorn gefallen, als er starb”, bemerkte Ben und blinzelte, als er nach oben sah. “Das Licht hier drinnen ist nicht so gut. Vielleicht hast du das vorher nur nicht gesehen.”
“Ich war so dicht an seinem Gesicht, dichter war fast nicht möglich”, widersprach sie. “So hat es nicht ausgesehen.”
Ben schüttelte den Kopf. “Verstehe ich nicht.”
“Ich schon”, entgegnete January.
Ben runzelte die Stirn. “Ich dachte, du meintest …”
“Ich meinte, dass er vorher nicht so aussah. Aber nicht, dass ich es nicht verstehe.”
“Was also?”
“Erinnerst du dich, dass er behauptet hat, in der Hölle gewesen zu sein?”
“Ja. Und?”
“Sein Gesicht ist verbrannt. Für mich sieht es so aus, als wäre er wieder dorthin zurückgekehrt.”
“Allmächtiger”, flüsterte Ben. “Weißt du, was du da sagst?”
“Ja. Und du erkläre mir, was sonst außer dem Feuer der Hölle die Haut eines Toten verbrennen kann.”
Ben starrte ein paar Sekunden auf den Toten hinunter, dann zog er January plötzlich wieder an sich.
“Nach dem, was er all diesen Menschen angetan hat …”
“Vergiss es”, sagte January, selbst erstaunt über ihre wiedergefundene Fassung, “es ist vorbei. Können wir jetzt ins Krankenhaus fahren? Ich muss sichergehen, dass Mutter Mary wieder gesund wird.”
Bei Einbruch der Nacht wurde die Geschichte von jeder Fernsehstation des Landes ausgestrahlt. Psychiater und Fachärzte diskutierten darüber, ob ein Tumor tatsächlich die Ursache dafür sein konnte, dass der Betroffene eine solche Fantasiewelt entwickelt hatte. Religionsgelehrte, Pastoren und Priester stritten darüber, wie ein Mann glauben konnte, er könne sich den Weg ins Himmelreich buchstäblich verdienen. Hellseher behaupteten, dass sein Name und die Initialen der Schlüssel zu dem seien, was passiert war. Jay Carpenter. J.C. Jesus Christus. Und dann der Name Carpenter, Zimmermann, der Beruf, den Jesus gelernt hatte …
January hatte die ganze abgedroschene Diskussion bald satt. Sie sah die Sache ganz pragmatisch. Niemand würde je begreifen, wie Jay Carpenter diese grausamen Quälereien fertigbringen konnte. Wahrscheinlich hatte der Priester es selbst nie verstanden. Doch zum Glück war das alles ja jetzt vorbei. Wo immer auch seine unsterbliche Seele gelandet war, sie würde nicht mehr zurückkommen.
Bart Scofields Mörder war endlich zur Rechenschaft gezogen worden.
Der Mann, der für die Entführungen verantwortlich war, lebte nicht mehr.
Inzwischen konzentrierte man sich auf die Überlebenden, und so sollte es sein.
Der Zustand der entführten Männer erregte großes Aufsehen im Krankenhaus. Um ihre Wunden zu versorgen, mussten sie zunächst einmal richtig gewaschen und von all dem Schmutz befreit werden. Jeder Mitarbeiter, der entbehrt werden konnte, meldete sich in der Notaufnahme.
Die Männer waren völlig verwahrlost und mit Rattenbissen und wunden Stellen übersäht. Als der erste Krankentransport aus dem Ambulanzwagen in die Klinik gerollt wurde, herrschte für einen kurzen Moment betretenes Schweigen, dann folgten leise, ungläubige Ausrufe des Entsetzens.
Statt von dem Zustand der Männer angeekelt zu sein, zeigten die Ärzte und Schwestern sofort tiefes Mitgefühl. Ärzte, Schwestern und Pfleger waren unermüdlich im Einsatz. Zivildienst leistende junge Männer rannten hin und her, um Müllsäcke mit der Kleidung zu füllen, die man den Männern vom Körper schneiden musste. Sie brachten Becken mit warmem Wasser und Seife, um die ausgemergelten und mit Wunden bedeckten Entführungsopfer zu waschen.
Zwei schwule Kosmetiker, die zufällig in der Notaufnahme waren, hörten, was passiert war, und meldeten sich freiwillig, um den Männern die Haare zu schneiden und sie zu rasieren, damit sie behandelt werden konnten.
Bereits kurz nachdem die Entführungsopfer ins Krankenhaus eingeliefert wurden, konnten sämtliche Namen veröffentlicht werden. Bei der Bevölkerung wich das anfängliche kollektive Entsetzen einer spontanen großzügigen Spenden- und Hilfsaktion.
Psychiater boten unentgeltlich ihre Dienste an. Hausbesitzer boten Wohnungen an. Arbeit wurde zuhauf angeboten. Geldspenden konnten bei mehreren Banken in der Innenstadt abgegeben werden. Seit dem elften September hatte es keinen solchen Zusammenhalt mehr in dieser Stadt gegeben, und January fragte sich, warum erst immer eine
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