Der Jünger
wieder den alten Ängsten Platz gemacht. Sie überfielen ihn mit einer solchen Gewalt, dass ihn eine schreckliche Vorahnung überkam.
Er war nicht im Himmel.
Das hier war die Hölle.
Jay fing an zu schreien, doch seine Stimme verlor sich in dem Heulen der zahllosen Seelen, die bereits in diesem Raum umherirrten. Es war zu spät, um zu bereuen. Zu spät, Gott um Vergebung zu bitten. Es war zu spät – für alles.
Vor ihm erhob sich ein Meer aus Flammen. Der Gestank von Schwefel war überall, als das Böse ihn umfing. Gerade drohte er vollständig davon aufgesaugt zu werden, da wurde er wieder herausgerissen. Nur ganz kurz und schwach kam das gleiche bewegende Gefühl von vorher zurück, nur wurde er diesmal hoch- statt heruntergezogen.
“
Gelobt sei Gott!”
, rief er erleichtert. “
Ich komme doch in den Himmel!”
Dann ertönte ein fürchterliches Gebrüll unter ihm, und auch wenn keine Worte gesprochen wurden, so hörte er doch deutlich den Schwur des Teufels.
“
Niemals kommst du in den Himmel! Du gehörst mir!”
“Ich habe einen Puls!”
Jay glaubte seine eigene Stimme zu hören, während er in seinen Körper zurücksank. Er wollte schreien, lachen, weinen, den Ärzten dafür danken, dass sie ihn ins Leben zurückgeholt hatten, aber er brachte noch keinen Ton heraus.
Es dauerte Tage, bis er so weit bei Bewusstsein war, dass er einen zusammenhängenden Satz sagen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war er schon fest entschlossen, eine krankhafte, beängstigende Mission durchzuführen. Was er von der Hölle gesehen hatte, war ihm tief ins Mark gefahren. Er wusste, dass es unvermeidlich war, zu sterben. Irgendwann erwischte es jeden, doch um sicherzugehen, dass seine zweite Reise ins Jenseits keine Wiederholung dieser ersten Erfahrung werden würde, hatte er sich etwas ausgedacht, was er für den sicheren Weg in den Himmel hielt.
Nach einer ernüchternden Besprechung mit dem behandelnden Arzt, bei der er erfahren hatte, dass sein Tumor nicht vollständig entfernt werden konnte und dass seine Tage gezählt seien, nahm die Entschlossenheit, seinen Plan durchzuführen, weiter zu. Der Gedanke, die Ewigkeit fern von diesem warmen, tröstenden Licht der Liebe zu verbringen, war ihm unerträglich. Je mehr er darüber nachdachte, umso sicherer war er, dass er rigoros vorgehen musste. Wenige Stunden, nachdem er das Krankenhaus verlassen hatte, unternahm er bereits den ersten Schritt in eine Richtung, die ihm als vollkommene Wiedergutmachung erschien.
1. KAPITEL
N eun Monate später
January DeLena war eine der bekanntesten Journalistinnen in Washington, D.C. Am 11. September war sie vor Ort gewesen, und nur wenige Minuten, nachdem das Flugzeug ins Pentagon gestürzt war, sendete sie live. Dann hatte die halbe Welt mit angesehen, wie sie das Mikrofon weglegte und den Überlebenden half, die aus dem Gebäude flohen. Als sie sich wieder daran erinnerte, weshalb sie dort stand, war sie vollkommen mit Ruß und Blut beschmiert. Sie fluchte und weinte vor laufender Kamera. Normalerweise wäre sie deshalb gefeuert worden, doch an diesem 11. September war alles anders. An diesem Tag hatte sie lediglich das ausgesprochen, was die ganze Nation fühlte. Am Ende der Woche kannte jeder den Namen der attraktiven Fernsehreporterin, die Osama bin Laden mit Schimpfworten bedacht hatte.
Im Laufe der Zeit hatte sich gezeigt, dass January DeLena nicht nur ein hübsches Gesicht hatte. Wenn es darum ging, eine Story zu bekommen, blieb sie hartnäckig, weshalb sie sich auch in dieser Nacht um halb eins in den Straßen des Rotlichtviertels aufhielt und unter die Obdachlosen mischte, statt in ihrem Bett zu liegen und zu schlafen.
Seit Monaten hörte sie das Gerede über einen Mann, der sich selbst den Sünder nannte und behauptete, schon einmal gestorben zu sein. Nun hieß es, er treibe sich bei den Hausierern herum und predige seine Version der Ewigkeit. Eigentlich also nur eine von vielen Geschichten über einen religiösen Fanatiker. Doch in diesem Fall gab es eine außergewöhnliche Wendung, und außergewöhnliche Geschichten zogen January magisch an.
Über Todeserfahrungen zu sprechen, war schwer in Mode gekommen. Viele Autoren hatten über dieses Thema ganze Bücher geschrieben und behauptet, dass sie nicht hatten zurückkommen wollen, weil ein berauschendes Gefühl des Friedens sie übermannt hätte. Aber dieser Mann erzählte eine völlig andere Geschichte und schaffte es damit immerhin, Januarys Neugier anzustacheln. Den
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