Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
könne die Wahrheit sagen, wenn er wolle. »Frank ist heute nacht erst freigekommen. Die Männer, die ihn gefangenhielten, haben ihm Beruhigungsmittel gegeben – ich glaube, er ist noch immer nicht ganz da«, sagte Tom.
»Nein, ich merke kaum noch was«, widersprach Frank höflich, aber entschieden. Er stand von dem Sofa auf, wo er eben erst Platz genommen hatte, trat zu dem Derwatt über dem Kamin, um ihn sich genauer anzusehen, schob beide Hände in die Gesäßtaschen und warf Tom einen Blick zu, ein kurzes Lächeln. »Echt gut, Tom, oder?«
»Ja, nicht wahr?« sagte Tom zufrieden. Er liebte die matten Rosatöne des Bildes, die wohl die Bettdecke der alten Dame oder ihr Nachthemd andeuten sollten. Der Hintergrund war schmutzigbraun und dunkelgrau gehalten. Lag sie im Sterben, oder war sie einfach nur lebensmüde und gelangweilt? Das Bild jedenfalls hieß Sterbende Frau .
»Mann oder Frau?« fragte Frank.
Tom hatte gerade gedacht, daß der Titel eine Erfindung Edmund Banburys oder Jeff Constants von der Galerie Buckmaster sein dürfte – Derwatt hatte sich selten mit Titeln aufgehalten – und daß man kaum erkennen konnte, ob die Figur männlich oder weiblich war.
»Es heißt Sterbende Frau, Frank«, bemerkte Reeves. »Du magst Derwatt?« Er klang angenehm überrascht.
»Frank sagt, sein Vater hat einen zu Hause – in den Staaten. Einen oder zwei?« fragte Tom den Jungen.
»Einen. Der Regenbogen. «
»Ah ja«, sagte Reeves, als sehe er das Bild vor sich.
Frank ließ sich weitertreiben, zu einem David Hockney.
»Haben Sie Lösegeld gezahlt?« fragte Reeves.
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte das Geld, hab es aber nicht übergeben.«
»Wieviel?« Reeves schenkte Wein ein. Er lächelte.
»Zwei Millionen. Dollar.«
»Nicht schlecht. Und was jetzt?« Ein Kopfnicken in Richtung des Jungen, der ihnen den Rücken zuwandte.
»Oh, er kehrt nach Hause zurück. Reeves, ich dachte, wir bleiben, wenn möglich, noch einen Tag länger bei Ihnen und fliegen dann am Freitag nach Paris. Ich will nicht, daß man den Jungen in einem Hotel erkennt, außerdem würde ihm ein weiterer Ruhetag guttun.«
»Sicher, Tom, kein Problem.« Reeves runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz: Die Polizei sucht noch nach ihm?«
Tom zuckte nervös die Achseln. »Das hat sie getan, vor der Entführung. Und ich nehme an, der Privatdetektiv in Paris hat zumindest die französische Polizei informiert, daß der Junge wieder aufgetaucht ist.« Erklärend fügte er hinzu, nirgendwo sei die Polizei von der Entführung in Kenntnis gesetzt worden.
»Und wohin sollen Sie ihn jetzt bringen?«
»Nach Paris, zu dem Privatdetektiv. Er arbeitet für die Familie. Franks Bruder Johnny begleitet ihn. – Danke, Reeves.« Er nahm sein Glas.
Minot brachte dem Jungen das zweite Glas und ging in die Küche. Tom folgte ihm. Aus dem Kühlschrank holte Reeves eine Platte mit Schinken, Weißkohlsalat, diversem Wurstaufschnitt und Mixed Pickles. Gabys Werk, sagte er. Die Frau wohnte im Haus bei den Leuten, für die sie eigentlich arbeitete, und hatte es sich nicht nehmen lassen, um sieben nach den abendlichen Einkäufen vorbeizukommen, um alles »vorzubereiten«, was sie für seine Gäste besorgt hatte. »Zum Glück mag sie mich«, meinte Reeves. »Findet meine Wohnung interessanter als die, wo sie wohnt. Trotz der verdammten Bombe damals. Na ja, als die hier hochging, war sie gerade nicht da.«
Die drei setzten sich an den gedeckten Tisch und sprachen von anderen Dingen, nicht mehr von Frank, doch immer noch über Berlin: Wie ging es Eric Lanz? Wer waren seine Freunde? Hatte er eine Freundin? Reeves lachte bei der Frage. Und Reeves, hatte der eine Freundin, fragte sich Tom? Oder waren Reeves und Eric so desinteressiert, daß Frauen einfach keine Rolle spielten? Nett, eine Frau zu haben, dachte Tom, während der Wein ihn allmählich erwärmte. Héloïse hatte einmal gesagt, sie habe ihn gern (oder hatte sie gesagt, sie liebe ihn?), weil sie beim ihm sie selbst bleiben könne und er ihr Raum zum Atmen lasse. Tom hatte die Bemerkung gefreut, auch wenn er nie einen Gedanken daran verschwendet hatte, Héloïse »Lebensraum« zu geben.
Reeves beobachtete Frank. Der Junge schien todmüde.
Kurz nach elf brachten sie ihn ins Bett. Frank schlief im Gästezimmer.
Danach setzten sie sich mit einer zweiten Flasche Piesporter Goldtröpfchen auf das Wohnzimmersofa, und Tom erzählte, was zuletzt passiert war, von dem Tag an, als Frank Pierson, der
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