Elfenblut
I
E inhundertfünfzig Jahre«, seufzte Pia. »Und nichts hat sich geändert.«
Sie bekam keine Antwort – und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch nicht damit gerechnet –, sondern nur ein nachdenkliches Stirnrunzeln und einen dümmlich-fragenden Blick aus einem runden Mondgesicht, das gute drei Handspannen über ihr schwebte, von stoppelkurz geschnittenem schwarzem Haar und einer mindestens fünfmal gebrochenen und breit geschlagenen Nase beherrscht wurde und auch darüber hinaus ungefähr genauso intelligent, verständnisvoll und sanftmütig aussah wie der nahezu perfekt gerundete Vollmond, der trotz der eigentlich noch frühen Stunde bereits am Himmel stand.
Schließlich machte Jesus (der im Übrigen nicht Jesus hieß, aber kaum jemand hatte es nach einem auch nur flüchtigen Blick auf seine gewaltigen schwieligen Fäuste jemals gewagt, ihn darauf hinzuweisen) ein noch fragenderes Gesicht und rang sich immerhin zu einem genuschelten »Hä?« durch.
Irgendwie gelang es Pia, weder die Augen zu verdrehen, noch zu laut zu seufzen, sondern sogar so etwas wie ein (mühsames) Lächeln auf ihr Gesicht zu zwingen. »Einhundertfünfzig Jahre«, wiederholte sie und brachte dabei das Kunststück fertig, nicht allzu genervt zu klingen. »So lange gibt es die Favelas schon. Mindestens. Vielleicht auch schon viel länger. Und nichts hat sich seither verändert. Ich meine: Sieh es dir doch an! Denk dir die Satellitenschüsseln von den Dächern weg, und das alles sieht aus wie vor zweihundert Jahren.«
Sie unterstrich ihre Worte mit einer ebenso weit ausholenden wie übertrieben deutenden Geste über die graue und rostig rote Landschaft aus Holz, Wellblech und Satellitenschüsseln der unterschiedlichsten Ausführung und Größe, die sich unter und hinter ihnen erstreckte, so weit sie sehen konnte … was ungefähr einen Kilometer bedeutete, vielleicht anderthalb. Alles, was dahinter lag, war unter einem schmutzig grauen Nebel aus Smog und hochgewirbeltem Straßenstaub verborgen. Aber Pia wusste, dass sich die Favelas tatsächlich so weit in diese Richtung ausdehnten, wie das Auge reichte … oder doch zumindest bis zu den Bergen, die westlich der Stadt eine natürliche Barriere bildeten. Wahrscheinlich, überlegte sie, hätten sie auch längst dieses Hindernis überwuchert und verschlungen, wäre das Gebirge nicht karstig und steil genug gewesen, um selbst einer Bergziege Kopfzerbrechen zu bereiten. So versuchten sie unentwegt, in die andere Richtung vorzudringen, was zu einem seit Jahrzehnten andauernden Guerillakrieg zwischen den Favelas und den angrenzenden Teilen der Stadt führte, deren Einwohner sich für etwas Besseres hielten.
Im Augenblick tobte nicht einmal weit entfernt eine weitere Schlacht in diesem nur scheinbar ungleichen Krieg. Lediglich einen Steinwurf hinter Jesus und ihr waren ganze drei der Ehrfurcht gebietenden Kriegsmaschinen der anständigen Bürger Rio de Janeiros aufgefahren, flankiert von einer Kohorte ihrer besten Krieger. Man hätte es auch anders ausdrücken können: gut zwei oder drei Dutzend Bauarbeiter mit gelben, roten und blauen Helmen – deren unterschiedliche Farben etwas bedeuten mochten oder auch nicht –, über denen sich die Schaufeln von drei riesigen Baggern erhoben, bereit, sich mit ihren gewaltigen Stahlzähnen in die aus Wellblech und morschem Holz errichteten Gebäude zu fressen, die es gewagt hatten, die imaginäre Grenzlinie zwischen dem Elendsviertel und der anständigen Leuten vorbehaltenen Seite der Straße zu überschreiten. Am Ausgang dieser Schlacht gab es nicht den geringsten Zweifel, da machte sich Pia nichts vor. Morgen, spätestens übermorgen (wenn nichts dazwischenkam, die Arbeiter oder die Müllabfuhr oder die städtischen Wasserwerke nicht streikten, es morgen nicht zu heiß oder zu kalt war, oder einer von tausend anderen denkbaren Umständen eintrat, um die Arbeiten wieder einmal lahmzulegen) würde nichts mehr von dem halben Hundert ärmlicher Hütten übrig sein, die es gewagt hatten, sich im anständigen Teil der Stadt breitzumachen. Und wenn ihre Bewohner dumm genug waren, sich zu heftig zur Wehr zu setzen oder zu laut zu protestieren, dann von etlichen von ihnen wohl auch nichts.
Aber Pia wusste auch, dass dieser Eindruck täuschte. Die Favelas mochten jede einzelne Schlacht in diesem ungleichen Kampf verlieren, doch der Krieg selbst endete nie. Dafür waren die Elendsviertel zu groß, die Stadt zu erbarmungslos und ihre anständigen Bewohner zu
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